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: Ohne Kaffee kein Newton

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Bis zum siebzehnten Jahrhundert lag das gute alte Europa eigentlich permanent im Tran: Wer schlecht beraten war - besonders in den Städten -, trank Wasser, in welchem die Bazillen und Viren munter Ringelreihen begingen. Wer etwas für seine Gesundheit tun wollte, hielt sich an Bier. Das war abgekocht, ...

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          Bis zum siebzehnten Jahrhundert lag das gute alte Europa eigentlich permanent im Tran: Wer schlecht beraten war - besonders in den Städten -, trank Wasser, in welchem die Bazillen und Viren munter Ringelreihen begingen. Wer etwas für seine Gesundheit tun wollte, hielt sich an Bier. Das war abgekocht, da war Alkohol drin, Bier gab's zum Frühstück, mittags und abends, und halbwegs satt blieb man auch, denn Bier ist der etwas dünnere Bruder des Brotes und daher ein treuer Begleiter des Menschen von Zweistromtagen an: Bier löschte den Durst, es beseelte den Körper und hielt doch die Werktätigen im Jammertal am Laufen.

          Es war der Kaffee, jener für jede vernünftige Arbeit unerlässliche Anreger und Konzentrator, der in unseren Breiten - in unseren Spelunken, Kontors und Tavernen - lange Zeit schlicht unbekannt war. Einige Reisende hatten ihn mal zu sehen bekommen, doch welche Möglichkeiten in ihm steckten, das blieb ihnen zunächst verborgen. Der Engländer George Sandys etwa meldete zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts aus Ägypten und Palästina: "Sie haben zwar keine Schänken, dafür aber ihre Kaffeehäuser, die durchaus ähnlich sind. Da sitzen sie und schwatzen den ganzen Tag, aus kleinen Porzellanschälchen schlürfen sie ein Getränk, das sie Coffa nennen (nach der Beere, aus der es hergestellt ist) und das sie so heiß wie möglich trinken; es ist schwarz wie Ruß und schmeckt auch nicht viel anders."

          Die Torheit des Kaffeetrinkens sollte sich bald jedoch in der westlichen Welt verbreiten. Folgt man dem vorliegenden Buch - und das tut man gerne -, so war es nicht zuletzt die heiße schwarze Brühe, welche Europa in den nächsten Jahrzehnten vollkommen umkrempelte.

          Eine entscheidende Starthilfe gab dabei ausgerechnet Papst Clemens VIII.: Dem alt gewordenen Herrscher wurde in seinem Todesjahr 1605 ein Tässchen Kaffee zur Prüfung angeboten. Ein venezianischer Kaufmann tischte es auf. Dies hier sei also das famose Gebräu der Muselmanen. Die Christenheit verlangte zu erfahren: Ob denn dieses Satansgebräu, mit welchem der Herrgott ganz offensichtlich die Ungläubigen strafen wollte, ob dieses denn nun etwa auf die Christenheit losgelassen werden solle? Clemens VIII. führte das Getränk an seine gesegneten Lippen, brachte geistesgegenwärtig - welch ein glücklicher Moment fürs Abendland! - das Geschick auf, sich an der Tasse nicht zu verbrennen, kostete und rief aus: "Es wäre eine Sünde, ein so köstliches Getränk den Ungläubigen zu überlassen."

          Und das hatte Folgen für die Nachwelt. Denn wäre Clemens VIII. bewusst gewesen, welche Zeitenwende seine kindliche Begeisterung lostrat, er hätte wohl eher das Satansgebräu an die Wand geworfen und den Überbringer gleich hinterher. Denn der Kaffee begann nun ins alte, dauerbetüterte Europa vorzudringen, und wo er hinfloss, hinterließ er eine Schneise der Erweckung: Wer mit ihm in Berührung kam, sprang auf und fasste sich an den Schädel. Zu welcher Klarheit des Denkens die dicke Birne doch fähig war! Wie gut sich Geschäfte abschließen, Gedanken entwickeln, Debatten sich führen ließen!

          Kaffee wurde zum Brennstoff der Epoche: Konzentration, Forschergeist und Unternehmerlust trieb er an; nachgerade zwingend wuchs um den Kaffee herum die Kaffeehauskultur, welche einen neuen Marktplatz der Informationen und Unternehmungen schuf. Im Kaffeehaus wurde philosophiert und debattiert, und so mancher Geschäftsmann gab vorzugsweise sein Stamm-Kaffeehaus als Adresse an, weil ihn da alles schneller erreichen würde; hier, wo er auf seinesgleichen traf, wo sämtliche verfügbaren Zeitungen, Gerüchte und Ansichten des Tages vorrätig waren. Im Kaffeehaus, um es mal auf eine hübsch zugespitzte Formel zu bringen, kam die Informationsgesellschaft zur Welt; in ihm hockte Diderot über der Enzyklopädie; wurden politische Stimmungslagen gemacht und abgeschöpft; Kaffeehausdebatten führten dazu, dass Newton seine "Mathematischen Prinzipien" niederschrieb; vor einem Pariser Kaffeehaus stand ein junger Anwalt eines Tages im Jahr 1789 auf einem Tisch, rufend: "Zu den Waffen, Bürger! Zu den Waffen!"

          Und das war erst der Kaffee. In sechs gut und anregend geschriebenen Kapiteln klärt uns der Journalist Tom Standage über sechs große Unterströme der Weltgeschichte auf: Bier, Wein, Branntwein, Kaffee, Tee und Coca-Cola. Jede dieser Gaben in ihrem Siegeszug wird dabei nicht nur als Produkt und Ausdruck ihrer Zeit begriffen - sie verändern auch die Welt; sie begründen Imperien und reißen sie wieder vom Sockel, sie geben Unterstützung, Halt und Rat; sie lassen Kulturen zusammenwachsen, sie schmecken alle übrigens zunächst einmal scheußlich - und werden von da an jedes Mal besser.

          KLAUS UNGERER.

          Tom Standage: "Sechs Getränke, die die Welt bewegten". Aus dem Englischen von Rita Seuß. Verlag Artemis & Winkler, Düsseldorf 2006. 267 S., geb., 19,90 [Euro].

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