Buch über Gershom Scholem : Eine intellektuelle Schlüsselfigur des zwanzigsten Jahrhunderts
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Zwei Interpreten von Format prüfen den Text: Peter Szondi (links) und Gershom Scholem im Jahr 1971 bei der Lektüre Walter Benjamins. Bild: Marlene Schnelle-Schneyder
Ihm ging es um das Selbstverständnis jüdischer Existenz nach 1945: Noam Zadoff widmet dem streitbaren Gelehrten Gershom Scholem eine exzellente Darstellung.
Auf dieses Buch hat man lange gewartet. Gershom Scholems Rang als außerordentlicher Wissenschaftler und Zeitzeuge steht außer Frage, doch zu unterschiedlich waren seine Rollen im intellektuellen Leben Deutschlands, als dass seine Gestalt eine individuelle, eigene Kontur bekommen konnte. Hier der Jugendfreund Walter Benjamins, sein Archivar, Herausgeber und kompromissloser Interpret, dort der ebenso kompromisslose Intellektuelle, der sich aus Israel vehement einmischte in die deutschen Fragen zu Erinnerung und Wiedergutmachung, und erst zuletzt der weltberühmte, lange Zeit fast einzige Vertreter einer höchst esoterischen Randdisziplin der Religionswissenschaft: der Historiker der Kabbala, der jüdischen Mystik.
Wer aber war dieser Gershom Scholem, 1897 als Gerhard in Berlin geboren, 1923 als überzeugter Zionist nach Palästina emigriert, 1982 in Jerusalem gestorben? Noam Zadoff, Religionshistoriker in München und Innsbruck, hat nun den lange überfälligen Versuch gewagt, dieser vielschichtigen Figur eine umfassende Gesamtdarstellung zu widmen, und dieser Versuch ist glanzvoll gelungen. Bereits mit dem Titel seines Buchs setzt Zadoff ein Zeichen: „Von Berlin nach Jerusalem und zurück“ ist natürlich Anknüpfung an Scholems eigene „Jugenderinnerungen“, die 1977, auf Deutsch geschrieben, als „Von Berlin nach Jerusalem“ erschienen.
Lebenslüge des assimilierten Judentums
Doch Zadoff markiert auch sofort seine These, dass Scholems Leben und intellektuelle Entwicklung nicht nur die eine Richtung kannten, die Scholem ihnen geben wollte. Gerade in den späten Jahren wurden – wie problematisch auch immer – Scholems Beziehungen zu Europa und Deutschland wieder intensiver, bis hin zum Aufenthalt in der Heimatstadt als erster Fellow des neugegründeten Wissenschaftskollegs Berlin, im Spätherbst 1981, den er wegen der letzten Krankheit dann abbrechen musste.
Zadoff hat sich für das Genre einer intellektuellen Biographie entschieden, wohl wissend, dass die Entwicklung eines deutschen Juden im zwanzigsten Jahrhundert nicht darstellbar ist ohne seine Lebensgeschichte. In den „Jugenderinnerungen“ erzählt Scholem selbst von der Familie, seiner Berliner Kindheit um 1900, der scharfen Kritik an dem, was er als die Lebenslüge des assimilierten Judentums empfand, von der intensiven Begegnung mit jüdischer Kultur und zionistischen Ideen, von dem definitiven Entschluss, in Palästina den Neubeginn jüdischen Lebens aktiv mitzugestalten.
Hilflosigkeit vor dem Massenmord
Scholems Buch endete mit der Übersiedlung nach Jerusalem, Zadoffs Biographie beginnt genau an dieser Stelle, und wenn man etwas bedauert, dann dass Zadoff nicht auch Scholems Jugendjahren die gleiche luzide Darstellung gewidmet hat. Alles Spätere: die bald einsetzenden Zweifel am Zionismus, die Reaktion auf die Katastrophe der Judenvernichtung, die Polemik gegen Hannah Arendts „Eichmann in Jerusalem“, die Kritik an der Staatsgründung Israels, die ambivalente Wiederannäherung an Deutschland, all das wird verständlich doch nur mit Blick auf die Hoffnungen und Pläne des jungen Mannes, was dieses neue jüdische Leben eigentlich werden sollte. Denn vieles von Scholems Kritik an der Entwicklung des Zionismus und Israels enthielt auch seinen Teil Selbstkritik an dem, was er nun als frühe Illusionen ansah.