Faszination Sportstadion : Steilpässe im Ideengestöber
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Alles interessant, alles schnell wegmoderiert
In der Masse befinden wir uns laut Gumbrecht im Angesicht „ungeahnter Möglichkeiten unserer Existenz“. Erläuterung: Man fühle sich auf besondere Weise einsam, konzentriert oder ekstatisch. So kann es einem allerdings auch beim Wandern, Tauchen oder im Kino gehen. Immer wieder betont der Autor, bloß nicht geistreich sein zu wollen, immer wieder ist er dafür kokett und bemüht provokant: Flankiert von Gedanken Judith Butlers und mit Blick auf die Gewaltbereitschaft mancher Fußballfans, lässt er sich etwa zu der These hinreißen, die Masse habe aufgrund ihrer physischen Präsenz ein „Recht auf Rechte“, und dies „könnte im Kontext der Spannung zwischen dem Deutschen Fußball-Bund und den Ultras relevant werden – und zwar zugunsten der Ultras, sobald man den Raum eines Stadions als öffentlichen Raum und nicht als Besitz eines Clubs und Unternehmens ansieht“.
Im Laufe des mal tastenden, dann wieder sprunghaft-assoziativen Essays tanzt ein heterogenes Ensemble aus Figuren und Kategorien nach der Pfeife des Autors, stets zur Stelle, wenn eine Begründungslücke gefüllt werden muss. Maradona und Nietzsche, Evita Perón und Caligula, Freud und die Tiller Girls, Schwarmverhalten und Primatenforschung, Moses und Hitler, Latenz und Ereignis – alles interessant, alles im Hauruckverfahren wegmoderiert. Was etwa ein Ereignis überhaupt ist, ob es mit einer Zustandsveränderung, Distanz zum Alltag und einem bestimmten Maß an Irreversibilität zu tun hat, darüber erfahren wir nichts.
Argumentative Unsicherheit
In einem zentralen Kapitel geht es um Spiegelneuronen, also jene Nervenzellen im Gehirn, die uns zu mitfühlenden Wesen machen. Es könne, so der Verdacht, die „mittels Spiegel-Neuronen multiplizierte Wahrnehmung spezieller Bewegungen auf dem Spielfeld durch viele Zuschauer in transitiver Aufmerksamkeit ... zu Explosionen von Intensität führen“. Das könnte in der Tat so sein. Genauso gut könnte es aber auch nicht so sein. Die Bemerkung, empirische Untersuchungen müssten dies erhellen, weist ebenso auf Gumbrechts argumentative Unsicherheit wie seine Satzanfänge: „Vielleicht erklärt ja ...“, „Vielleicht ist dies der Grund ...“ Dass er von Gattungen spricht, aber Arten meint, ist dagegen ein zu verschmerzender Lapsus.
Kühner mutet die These an, alle Lebewesen, die nicht an einen Ort gebunden sind, würden sich grundsätzlich oder gelegentlich in Schwärmen konstituieren. Da fragt sich etwa, was denn einen Ort überhaupt ausmacht: Ist ein Baum ein Ort? Oder eine Lichtung? Oder erst der ganze Wald? Gibt es Eichhörnchen- und Tigerschwärme? So einnehmend der Professor als Sportfan und naturwissenschaftlich interessierter Essayist erscheint: Sein Ideengestöber hat einer sorgfältigen Analyse nichts entgegenzusetzen.
Hans Ulrich Gumbrecht: „Crowds“. Das Stadion als Ritual von Intensität. Vittorio Klostermann Verlag, Frankfurt am Main 2020. 154 S., br., 14,80 €.