Borgoltes Mittelalter : Waren Sie schon einmal in Eufrasien?
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Was die Welt von der Welt wusste: Der von einer mallorquinischen Werkstatt geschaffene Katalanische Atlas von 1375 fasst auf zwölf Pergamentblättern die geographischen Kenntnisse des ausgehenden europäischen Mittelalters zusammen. Bild: Bridgman
Michael Borgolte schlägt auf fast neunhundert Seiten einen großen Bogen von der Spätantike bis zur Neuzeit. Dabei geht der Überblick über die „Welten des Mittelalters“ unter der Fülle der Fakten bisweilen verloren.
Die Weltgeschichte ist als wissenschaftliches Genre in Verruf geraten. Sie sei rassistisch und eurozentristisch geprägt, heißt es oft, sie zwinge den Regionen außerhalb des nordatlantischen Raums ein Epochenmodell auf, das ihnen nicht entspreche, und verkläre brutale Eroberungskriege zu „Entdeckungen“. Zugleich hat die Anzahl epochenübergreifender Geschichtsdarstellungen seit dem Ende des Kalten Krieges stark zugenommen. Es gibt geographisch, ökologisch und technologisch zentrierte Globalgeschichten, Buchreihen über Imperien und Handelswege, Religionen und Kulturen. Sie alle entsprechen einem gewachsenen Bedürfnis nach Überblick und Orientierung, das zur gängigen Kritik an historischen Verallgemeinerungen und perspektivischen Verzerrungen in einem unauflöslichen Spannungsverhältnis steht.
Diese Spannung prägt auch Michael Borgoltes Gesamtschau des Jahrtausends zwischen 500 und 1500 nach Christus. Dabei macht sich Borgolte zusätzlich angreifbar, indem er mit dem „Mittelalter“ einen Begriff ins Zentrum stellt, der in der Forschung geradezu habituell umstritten ist. Dass es kein islamisches Mittelalter gab, wissen wir spätestens seit Thomas Bauer, und auch für die chinesische oder japanische Historiographie ist die europäische Epocheneinteilung wenig hilfreich. Für Borgolte freilich stellt gerade die inhaltliche Vagheit des Mittelalterbegriffs das beste Argument für dessen Anwendung dar. Eben weil ihn die Wissenschaftsdebatte bis zur Unkenntlichkeit durchlöchert habe, könne man sich seiner bedienen, um in der „konstruktiven Freiheit“ globalisierter Geschichtsbilder eigene zeitliche Pflöcke einzuschlagen. Dass der Autor das Mittelalter auf den knapp neunhundert Textseiten seines Buches meistens in Anführungszeichen setzt, zeigt gleichwohl, dass er sich der Gefahren dieses begrifflichen Pragmatismus durchaus bewusst ist.
Der Globus ist hier sozusagen halbiert
Als methodischen Leitstern hat Borgolte Johann Gustav Droysens Konzept der „untersuchenden Darstellung“ gewählt. Das bedeute, so der Autor, dass die Geschichtserzählung die Geschehnisse, auf denen ihr Urteil fußt, in einer „Mimesis des Suchens und Findens“ gleichsam erst unterwegs auflese und einordne. Dieser Verzicht auf vorgefasste Kategorien hat den Vorzug, dass alles, was im Licht des historischen Suchscheinwerfers auftaucht, prinzipiell gleichwertig erscheint. Der Nachteil des Verfahrens besteht allerdings darin, dass es oft gerade jene Zusammenhänge verwischt, auf die es der Globalgeschichte eigentlich ankommt. Das sieht man auch an den „Welten des Mittelalters“.
Borgoltes Globus ist sozusagen halbiert. Seine Darstellung folgt dem Weltmodell des „dreigeteilten Erdkreises“ aus Asien, Europa und Afrika, das zuerst in hochmittelalterlichen Illustrationen antiker Handschriften erscheint. Was jenseits dieser trikontinentalen Welt liegt – Nord- und Südamerika, Ozeanien und auch das subsaharische Afrika – wird in einem Prolog ziemlich knapp abgefertigt, denn diese „Wirklichkeiten der Fremde“, so Borgolte, hatten mit dem Berichtsgebiet „Eufrasien“ so gut wie keinen Kontakt. Danach folgen, passend zum dreigeteilten Erdkreis, die drei Hauptkapitel des Buches. Das erste handelt von dem, was man Realgeschichte nennen könnte, also Groß- und Kleinreichen als „Kommunikationsräumen“, die beiden anderen widmen sich der Verbreitung der Religionen und dem Fernhandel.
Eine gewisse Neigung zur Redundanz
Für diese Gliederung gilt das Gleiche, was man über Droysens heuristisches Darstellungsprinzip sagen kann. Sie ist insofern zeitgemäß, als sie die unterschiedlichen Sphären der Macht, des Glaubens und der Ökonomie in ihrer je eigenen Logik zu Wort kommen lässt. Der Erkenntnisgewinn dieses kaleidoskopischen Verfahrens wird aber durch eine durchgängige Neigung zur Redundanz erkauft, die nicht etwa aus einer Unschärfe des begrifflichen Apparats, sondern aus den Stoffen selber rührt. Reiche, Religionen, Kriege und Handel sind eben nicht säuberlich zu trennen, sondern in ihren historischen Ausprägungen unaufhörlich aufeinander bezogen.