https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/sachbuch/maximiliane-schaffraths-buch-systemrelevant-17341450.html

Frust in der Pflege : Für die Patienten bleibt zu wenig Zeit

Die Uhr tickt: Der Personalmangel in Pflegeberufen führt dazu, dass viele Kranke nicht ausreichend umsorgt werden. Eine Krankenhausreform soll helfen. Bild: dpa

Fünfzehn Tote in acht Wochen: Maximiliane Schaffrath gibt einen Einblick in den Alltag von Krankenpflegekräften. Ihr persönlicher Bericht zeugt von unhaltbaren Zuständen.

          2 Min.

          Über die Pflege wird viel gesprochen, nicht erst, aber insbesondere seit Ausbruch der Corona-Pandemie. Die größten Probleme sind bekannt: zu viele Patienten, zu wenig Personal und Zeit. Was das im Alltag in den deutschen Kliniken konkret bedeutet – für die Pflegekräfte ebenso wie für die kranken Menschen –, davon dürften jedoch die wenigsten eine Vorstellung haben. Denn Stimmen von Pflegekräften selbst sind selten zu hören. Diese Lücke schließt das Buch „Systemrelevant“ von Maximiliane Schaffrath.

          Britta Beeger
          Redakteurin in der Wirtschaft und zuständig für „Die Lounge“.

          Es ist ein schonungsloser und persönlicher Einblick: Die Autorin hat eine Ausbildung in der Krankenpflege gemacht und beschreibt, was sie in dieser Zeit auf den Stationen eines großen Krankenhauses erlebte. Das Buch beginnt unvermittelt mit ihrem ersten praktischen Einsatz nach drei Monaten Pflegeschule, auf der Hämatologie, oder, wie Schaffrath schreibt, der „Krebsstation“. An Tag zwei soll sie auf der Palliativstation aushelfen, weil eine Kollegin ausgefallen ist.

          Was, wenn einer ausrastet?

          Schon in diesen ersten Wochen offenbart sich all das, was sich wie ein roter Faden durch ihre Ausbildung ziehen wird. Das mit Abstand größte Problem ist der Personalmangel. Er führt dazu, dass kaum jemand Zeit hat, ihr etwas zu erklären, dass sie oft überfordert ist und ihr ständig vorgeworfen wird, sie sei zu langsam, etwa beim Essenausteilen oder dem Waschen von Bettlägerigen. Ihre Kolleginnen – die meisten sind weiblich – sind häufig selbst am Ende ihrer Kräfte. Fünfzehn Tote in acht Wochen, das ist die Bilanz ihrer ersten Station. Sie würde gerne mit jemandem aus dem Arbeitsumfeld darüber sprechen. „Aber es hat keiner Zeit dafür.“

          Maximiliane Schaffrath: „Systemrelevant“. Hinter den Kulissen der Pflege.
          Maximiliane Schaffrath: „Systemrelevant“. Hinter den Kulissen der Pflege. : Bild: S. Hirzel Verlag

          Doch nicht nur sie selbst und ihre Ausbildung kommen ihrer Schilderung nach zu kurz, sondern auch die Patienten. Die Autorin nennt es „die ewige Kluft zwischen dem, wie es sein soll, und dem, wie es ist, weil es anders einfach nicht geht“. Ein Beispiel: In der Unfallchirurgie meldet sich eine Kollegin krank, so dass Schaffrath mit einer weiteren Pflegekraft für fünfunddreißig Patienten verantwortlich ist. Als einer davon ausrastet, ist die Frage: Schaffen sie es, ihn zu beruhigen, oder bleiben die anderen vierunddreißig auf der Strecke? Zumal bei allen frisch Operierten regelmäßig verschiedene Werte gemessen werden müssten. „Wir können froh sein, wenn wir das einmal pro Schicht schaffen.“

          Blut, Schmerz, Leid und Tod

          Weitreichende Rückschlüsse und Handlungsempfehlungen zieht Schaffrath aus dem, was sie erlebt hat, nur an wenigen Stellen. Zum Teil sind das konkrete Vorschläge, etwa Stationen, die mit dem Nachwuchs schlecht umgehen, für die Ausbildung zu sperren. An anderer Stelle wird sie grundsätzlich: „Ich möchte für meine Entscheidung, einen Beruf zu erlernen, der mich tagtäglich mit Kotze, Scheiße, Blut, ansteckenden Krankheiten, Schmerz, Leid und Tod konfrontiert, besser behandelt werden.“

          So emotional schreibt sie in weiten Teilen des Buches. Auch, wenn es darum geht, wie sie immer wieder an Grenzen kommt, zeitweise jeden Tag weint, weil sie nicht abschalten, keine Distanz zum Job mehr schaffen kann. Von einem bestimmten Punkt an geht es für sie nur noch ums Durchhalten, um die Frage, wann die „Quälerei“ endlich ein Ende hat. „Systemrelevant“: Diese in der Corona-Krise entstandene Zuschreibung für die Pflege dürfte in ihren Augen wie Hohn wirken.

          Restlos desillusioniert

          Für den analytischen Überbau, einen nüchterneren Blick auf die Probleme in der Pflege, ist das Nachwort zuständig, in dem der Pflegerechtler Thomas Klie mit Andreas Krahl spricht, einem Krankenpfleger und Abgeordneten im Bayerischen Landtag. Doch so subjektiv die Schilderungen Maximiliane Schaffraths auch sein mögen, machen sie schon für sich genommen deutlich, wie schwierig die Situation in der Pflege ist und was sich ändern muss.

          Es seien jedenfalls nicht der Beruf an sich, die Krankheiten oder die Patienten, die auf ihr lasteten, schreibt Schaffrath. Und tatsächlich zeigt die Autorin auch, wie vielfältig eine Ausbildung in der Krankenpflege sein kann und dass Kollegialität möglich ist. Voller Idealismus gestartet, auf der Suche nach einer Arbeit, die sinnvoll ist, sei sie nach drei Jahren „restlos desillusioniert“.

          Maximiliane Schaffrath: „Systemrelevant“. Hinter den Kulissen der Pflege. S. Hirzel Verlag, Stuttgart 2021. 240 S., br., 18,– €.

          Weitere Themen

          Sorglos mit dem Geld

          Prüfung RBB : Sorglos mit dem Geld

          Die Landesrechnungshöfe haben den RBB geprüft. Und attestieren dem Sender „systematische Mängel“. Weitere Prüfungen sollen deshalb folgen.

          Diese Kamera geht unter die Haut

          Im Rampenlicht : Diese Kamera geht unter die Haut

          Sie habe sich auf die Perversen und die Abartigen spezialisiert, wurde der Fotografin Diane Arbus nachgesagt. Es ging ihr aber um Schönheit und Individualität. Die Fondation Luma in Arles zeigt die größte Diane-Arbus-Ausstellung je.

          Topmeldungen

          Der frühere amerikanische Präsident Trump am 1. Juni auf einer Veranstaltung in Grimes, Iowa

          Anklage gegen Ex-Präsident : Trumps Lunte brennt weiter

          Die Versöhnung Amerikas wird es nach den Anklageerhebungen gegen Trump nicht mehr geben. Man wird schon dankbar sein, wenn die bevorstehende politische Schlammschlacht friedlich abläuft.
          Der ehemalige „Bild“-Chef Julian Reichelt

          Vorwurf der Täuschung : Springer will von Reichelt 2,2 Millionen Euro

          Der Springer-Verlag verklagt den früheren „Bild“-Chef Julian Reichelt. Er habe gegen seinen Abfindungsvertrag verstoßen. Reichelts Anwalt weist die Vorwürfe zurück – und gibt Einblick in Springers angebliche Methoden.
          Ein Land in Trauer: Blumen, Kerzen und Ballons am Tatort in Annecy

          Messerangriff auf Spielplatz : Frankreich steht unter Schock

          Nach dem Messerangriff auf einem Spielplatz ist das Entsetzen in Frankreich groß. Präsident Macron reist zum Tatort. In Paris hat die Tat eines Syrers die Debatte über das Asylrecht weiter angeheizt.

          Newsletter

          Immer auf dem Laufenden Sie haben Post! Die wichtigsten Nachrichten direkt in Ihre Mailbox. Sie können bis zu 5 Newsletter gleichzeitig auswählen Es ist ein Fehler aufgetreten. Bitte versuchen Sie es erneut.
          Vielen Dank für Ihr Interesse an den F.A.Z.-Newslettern. Sie erhalten in wenigen Minuten eine E-Mail, um Ihre Newsletterbestellung zu bestätigen.