Marie-Françoise Peteuil: Helen Hessel : Der Revolver stand ihr gar nicht schlecht
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Bild: Schöffling & Co.
Lebenskunst der unbedingten Art: Marie-Françoise Peteuil erzählt das Leben von Helen Hessel, über die zwar viel geschrieben und geredet wurde, die aber selbst kein rechtes Werk hinterließ.
In einem Interview aus dem Jahr 1966 erzählt François Truffaut, wie er Henri-Pierre Rochés Roman „Jules et Jim“ aus der Grabbelkiste eines Pariser Bouquinisten zog. Ihm habe der Titel des Buches gefallen. Er lässt ihn sich auf der Zunge zergehen: Jules, französisch gesprochen, und Jim mit anlautendem „D“, englisch, so wie in „Dschungel“. Man meint Oskar Werner, den Jules des gleichnamigen Films, vor sich zu haben, wie er Jeanne Moreau (“Kathe“) in die phonetischen Grundlagen seiner Männerfreundschaft zu Jim einführt. Mit hintersinnigem Charme rekapituliert Truffaut die Geburt des großen Kinofilms aus einer kleinen Dissonanz.
Spätestens seit Anfang der neunziger Jahre kennen wir die realen Personen hinter dieser berühmten Dreiecksgeschichte: Da erschienen in Frankreich postum die Tagebücher und Briefe Helen Hessels an ihren Geliebten Henri-Pierre Roché, begonnen zunächst in Rochés Auftrag, dem es lieb gewesen wäre, wenn sich auch Franz Hessel, der Romancier, Proust-Übersetzer und Ehemann, an der mehrstimmigen Aufzeichnung ihrer Liebe zu dritt beteiligt hätte. Hessel aber entzog sich dem Ansinnen seines Freundes - wie auch den heftigen Leidenschaften seiner Frau und ihres Liebhabers - weitgehend und gestaltete seinen eigenen literarischen Kosmos.
Zurück auf den Boden der Tatsachen
Obwohl ihr „Journal“ bisher nicht übersetzt wurde, kann man nun auch auf Deutsch mehr über Helen Hessel erfahren. Diese Biographie bringt uns auf den Boden der Tatsachen zurück. Zwar sind einige der einprägsamsten Szenen von Truffauts Films offenbar direkt aus Helen Hessels Leben gegriffen: Der Sprung in die Seine hat wohl ebenso stattgefunden wie die Zickzackfahrt über Pariser Bordsteinkanten und die Episode mit dem Revolver: Als sie den Geliebten zu verlieren glaubt, wirft sie den Zimmerschlüssel aus dem Fenster und droht, ihn zu erschießen. Doch die anmutige Konstellation des Films scheint im Kern so unwahr zu sein wie das saubere melodramatische Ende.
Denn keinesfalls ließ sich der Kunsthändler und Teilzeitautor Roché von seiner Freundin in den See stürzen. Vielmehr verheimlichte er ihr jahrelang Ehefrau und Sohn und verschleppte die Trennung aus Angst vor ihrer Rache. Und auch aus Helens Perspektive gab es, nach Auskunft ihrer Biographin, keine utopische Gleichzeitigkeit der entgrenzten Liebe: Weder habe sie sich jemals als die Frau zweier Männer gefühlt, noch scheint sie eine große Bereitschaft an den Tag gelegt zu haben, den Mann ihres Lebens (Roché) mit seinen zahlreichen Geliebten zu teilen.
Berühmte Männer genug
Während Truffauts/Rochés Parabel über den „Tourbillon de la vie“ also ein Kammerspiel für drei Personen ist, sprengt die reale Biographie der Frau, der sie ein Denkmal setzt, diesen engen dramaturgischen Rahmen. Ihr Leben spielte sich nicht nur in ländlicher Abgeschiedenheit ab, sondern auch auf den großen Bühnen der Metropolen Paris und Berlin: Geboren 1886 als Tochter eines preußischen Bankiers mit libertiner Tendenz, studierte sie Malerei bei Käthe Kollwitz. Franz Hessel führte sie in die Pariser Künstler- und Intellektuellenszene ein. Später pflegte sie als Korrespondentin der „Frankfurter Zeitung“ den Kontakt zur Modewelt der französischen Hauptstadt.
Kaum ein berühmter Name der Vor- und Zwischenkriegszeit, mit dem man sie nicht in Verbindung bringen könnte: Walter Benjamin, der mit Franz Hessel durch Berlin und Paris flanierte, Marcel Duchamp, ein Freund Rochés, Rainer Maria Rilke, der sie als „rote Geranie“ besang, Adorno, der mit Vergnügen ihre Modekolumne las, André Bréton, Aldous Huxley, Thomas Mann ... Den vorläufig letzten Baustein dieses Verweisungszusammenhangs bildet der Weltbestseller ihres Sohnes Stéphane Hessel, „Empört Euch!“.
Gegen alle moralischen Konventionen
Dennoch ist es nicht ganz leicht, die Faszination für eine Frau zu verstehen, über die zwar viel geschrieben und geredet wurde, die aber selbst kein rechtes Werk hinterließ. Marie-Françoise Peteuils Biographie zeichnet das Porträt einer gescheiterten Künstlerin, die weder als Malerin noch als Schriftstellerin Anerkennung fand. Die eigenen Gemälde vernichtete sie frühzeitig, trotz guter Kontakte kam ihr Theaterstück „Blut“ nie zur Aufführung, und auch der Erfolg ihrer Tagebücher dürfte eher einem Voyeurismus des Kulturpublikums als der vermeintlichen Radikalität ihres sprachlichen Ausdrucks geschuldet sein. Damit bleibt ihr nur die traditionell weibliche Rolle, die Muse schöpferischer Männer gewesen zu sein.
Vielleicht aber war Helen Hessels turbulentes Leben selbst ein Kunstwerk - nur in welchem Sinn? Der Psychoanalytikerin Charlotte Wolff erschien sie als „Inbegriff verführerischer Weiblichkeit“ und als „perfektes Beispiel einer befreiten Avantgardistin“. Mit diesem Gedanken könnte man sich anfreunden, würde Peteuils reichbebilderte Biographie nicht auch die sexuelle Hörigkeit, die psychische und physische Gewalt dieser „amour fou“ grell ausleuchten. Mit drei Abtreibungen bezahlte Helen Rochés Idee, einen legitimen Stammhalter zu zeugen, den er dann aber ein ums andere Mal nicht haben wollte.
Ob befreit oder nicht, Helen Hessel lebte entschlossen gegen alle moralischen Konventionen und - besonders im Zweiten Weltkrieg - zwischen allen Fronten. Weniger das dreisprachige Kauderwelsch ihres an Roché adressierten Tagebuchs als der spätere Briefwechsel mit ihrem älteren Sohn Ulrich führt uns ein Leben vor, das gerade in seinem permanenten Scheitern an unbedingten Zielen gelungen ist. Noch die greise Helen Hessel muss man sich als feurige Dilettantin und als glücklichen Menschen vorstellen.