Marcel Mauss: Schriften zur Religionssoziologie : Was wollen Tränen und Gesang bedeuten?
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Bild: Suhrkamp Verlag
Er hat nicht nur die berühmte Studie über „Die Gabe“ verfasst: Zwei neue deutsche Ausgaben laden zur Beschäftigung mit dem Anthropologen und Soziologen Marcel Mauss ein.
Die Arbeiten des französischen Soziologen und Anthropologen Marcel Mauss fristeten lange Zeit ein Schattendasein. Als kurz nach seinem Tod 1950 unter dem nüchternen Titel „Sociologie et Anthropologie“ eine erste Auswahl seiner Texte auf Französisch erschien, galt vor allem sein Essay „Die Gabe“ (1923/24) als sein wichtigstes Werk. In der Einleitung zu diesem Band schrieb sein Schüler Claude Lévi-Strauss, man könne ihn nicht lesen, „ohne die Skala der Empfindungen zu durchlaufen, die Malebranche in Erinnerung an seine Descartes-Lektüre so gut beschrieben hat: Unter Herzklopfen, bei brausendem Kopf erfasst den Geist eine noch undefinierbare, aber unabweisbare Gewissheit, bei einem für die Entwicklung der Wissenschaft entscheidenden Ereignis zugegen zu sein.“
Zugleich beklagte der Begründer der strukturalen Anthropologie jedoch, dass die bahnbrechenden, in anderen Texten eröffneten Perspektiven nicht systematisch genug ausgearbeitet worden seien. Maus hätte seinen Schülern nichts als Fragmente hinterlassen, hätte wie Moses das Heilige Land zwar schauen, doch nicht selbst betreten können.
Die Klassifikation zuerst
In der Tat hatte Mauss zu seinen Lebzeiten kein einziges Buch publiziert und eine Reihe seiner Aufsätze über Magie und Religion in Zusammenarbeit mit seinem Onkel Émile Durkheim oder dessen Schülern Henri Hubert oder Paul Fauconnet verfasst. Der erste Teil seiner nie abgeschlossenen Dissertation über das Gebet zirkulierte in fragmentarischer Form als Privatdruck unter Freunden und Kollegen. Viele seiner späteren originellen Untersuchungen, wie etwa diejenigen über die „Techniken des Körpers“ (1934), blieben dezidiert ethnographisch-deskriptiv ausgerichtet. Dabei steht die theoretische Spekulation demonstrativ hinter der Klassifikation von Beobachtungen zurück. Kataloge, Listen und Pläne treten an die Stelle von Axiomen.
Im selben Jahr machte Mauss einen Interviewer auf diese Eigenheit seines Werks aufmerksam, wenn er die Entwicklung eines „großen theoretischen Systems“ zu einer „unlösbaren Aufgabe“ erklärte: „Mir geht es darum, ein wenig von den Dimensionen des Forschungsfeldes aufzuzeigen, von dem wir bis jetzt allenfalls den Rand berührt haben. Wir wissen nur ganz wenig, ein wenig hier und ein wenig da - das ist alles. Indem ich auf diese Weise gearbeitet habe, sind meine ,Theorien’ verstreut und unsystematisch, so dass ich Ihnen keine Stelle nennen könnte, wo Sie eine Zusammenfassung finden könnten.“
Erstmals deutsch, exzellent übersetzt
Es erstaunt daher nicht, dass Mauss lange Zeit vor allem als der „Neffe Durkheims“ angesehen wurde, zunächst als treuer Schüler und Zuträger, später in seiner institutionellen Rolle als Bewahrer der Lehren der Durkheim-Schule. Da die Rolle des Theoretikers und soziologischen Klassikers spätestens seit der Veröffentlichung der „Elementaren Formen des religiösen Lebens“ (1912) durch den Onkel besetzt war, wurden die religionssoziologischen Beiträge von Mauss wenn überhaupt in der Ethnologie rezipiert. Und obwohl Lévi-Strauss davor gewarnt hatte, „Die Gabe“ vom Rest des Werks zu isolieren, kam es in der französischen Rezeption - von Pierre Bourdieu über Jacques Derrida bis zur M.A.U.S.S.-Gruppe um den Soziologen Alain Caillé - vielfach zu einer solchen Verengung auf diesen Essay.
Nun erlauben eine Reihe von erstmals ins Deutsche übersetzten Texten eine Neueinschätzung: Die gewichtigste Neuerscheinung versammelt eine Auswahl der Schriften zur Religionssoziologie, großenteils in einer exzellenten Übersetzung von Eva Moldenhauer. Ein deutsch-französisches Soziologenteam, das sich schon länger um die Neubewertung von Mauss’ Werk bemüht, hat die Texte behutsam und sachkundig, dabei auch für fachfremde Leser zugänglich kommentiert.
Der umfangreiche Band wird von der ersten längeren wissenschaftlichen Publikation, einer 1896 über Rudolf Steinmetz’ Studien zur Ethnologie des Strafrechts verfassten Rezension, eröffnet. Bereits dieser Text, der bisher eher als Marginalie eingestuft wurde, demonstriert die verblüffende Gelehrsamkeit im Detail sowie die argumentative Schärfe des jungen Autors: Gegen die psychologische Theorie des Wundt-Schülers Steinmetz, derzufolge die Strafe ihren Ursprung in der privaten Rachsucht des Individuums hat, entwirft Mauss einen Ansatz, der den religiösen Charakter der familiären Beziehungen und der sozialen Gruppe für grundlegender ansieht.