Folgen des Anthropozäns : Geschichten vom Sturz ins Verderben
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Kein Anthropozän ohne zerstörte Natur, ausgebeutete Ressourcen und fossile Energieträger: Braunkohletagebau in Nordrhein-Westfalen Bild: Picture Alliance
Künftige Generationen werden neidisch auf unser Zeitalter zurückschauen: Daniel R. Headrick legt eine nüchtern-lakonische und materialreiche Umweltgeschichte vor.
Nun also eine „Umweltgeschichte des Anthropozäns“? Dabei haben sich wissenschaftliche Kommissionen, Kongresse und Fachverbände in aller Welt nach zwei Jahrzehnten stürmischer Debatte noch immer nicht darauf einigen können, wann das „Anthropozän“ begann, also die bis heute andauernde Epoche der Menschheitsgeschichte. Sie unterscheidet sich von früheren Zeitaltern dadurch, dass erstmals eine einzige Spezies unter Millionen anderen, der Homo sapiens, überall auf dem Planeten radikal und manipulierend in Geologie, Klima und Ökosysteme eingreift.
Das hat zu beispiellosem Wohlstand und Lebenskomfort in großen Teilen der Welt geführt, aber auch zu gigantischen und zumeist irreparablen Zerstörungen in vielen Bereichen der Natur. Der Beginn dieses Prozesses wird immer noch unterschiedlich datiert. Die einen wollen einen signifikanten menschlichen „Fußabdruck“ bereits im Neolithikum erkennen, die anderen erst seit 1945 mit der Entfesselung der Atomkraft und dem steilen Anstieg des Verbrauchs fossiler Energie.
Eine Litanei von Brutalitäten und Dummheiten
Daniel R. Headrick gehört zu den Maximalisten. Das erste Drittel seiner Geschichte des Angriffs der Menschen auf die Natur reicht von den Massakern speerbewaffneter Großwildjäger vor mehr als 10.000 Jahren bis zum Beginn der europäischen Kolonisation Amerikas. Der mittlere Teil über die Zeit zwischen 1500 und 1900, der die Industrielle Revolution einschließt, fällt etwas kürzer aus. Das zwanzigste Jahrhundert muss allein deshalb ausführlicher behandelt werden, weil nun erstmals auch von Umweltbewusstsein (im Original: „environmentalism“) Umweltaktivismus und ökologisch orientierten Wissenschaften zu berichten ist.
Je länger der Zeitraum, aus dem eine Darstellung wie diese ihre Daten bezieht, umso düsterer muss ihre Botschaft ausfallen. Angesichts einer endlosen Litanei von Brutalitäten und Dummheiten, von Verwüstung und Ausrottung, Waldzerstörung und Bodenvergiftung kann man dem Chronisten solcher Schrecken sein illusionsfreies Menschbild nicht verdenken. Im Grunde „schon immer“ war Homo sapiens ein unangenehmer Nachbar anderer Lebewesen. Auch die Unterdrückung und Ausbeutung der Menschen untereinander ging oft auf Kosten der Natur. Headricks Vergangenheitspessimismus verlängert sich in die Zukunft. Nach einer Prüfung verschiedener Pro-gnosen endet das Buch mit der resignierten Erwartung, künftige Generationen würden „einmal neidisch auf unser Zeitalter zurückschauen“.
Bevölkerungswachstum plus Konsumgesellschaft
Nun ist das Buch aber keine neuerliche Öko-Jeremiade und ziemlich frei von der schwärmerischen Vorstellung, eine vor- oder nachmenschliche Natur befinde sich in friedlichem Gleichgewicht. Als erfahrener Empiriker, der gute Bücher über Technikgeschichte und Imperien geschrieben hat, und als unsentimentaler Darwinist lässt Headrick die Fakten sprechen, die er aus einer Fülle kritisch gesichteter Literatur zusammengetragen hat.
Wenn er Zahlen – meist solche von Verlusten – gefunden hat, nutzt er sie, auch wenn sie für frühere Epochen oft nur Schätzungen sind (das hätte manchmal deutlicher gesagt werden können). Über das ganze Buch verstreut sind etwa Angaben zur Waldvernichtung, die oft aus militärischen Gründen und in Kriegen Höhepunkte erreichte. Wo er wissenschaftliche Kontroversen für offen hält, legt Headrick die verschiedenen Ansichten dar, ohne zwischen ihnen zu entscheiden. Es wäre zum Beispiel umwelthistorisch elegant, die Eroberungszüge der Mongolen im frühen dreizehnten Jahrhundert auf eine Klimaverschlechterung zurückzuführen. Aber das bleibt nur eine mögliche Ursache unter mehreren. Auch um die Erklärung der Kleinen Eiszeit vom sechzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert konkurrieren weiterhin vier Theorien.
Kettenreaktionen erfolgen oft in Form von Abwärtsspiralen
Headricks lakonischer, eher untertreibender Stil verstärkt die Wirkung seiner Befunde. Auf bestimmte Zusammenhänge macht er quer durch die Epochen immer wieder aufmerksam. So ist es eine Besonderheit der Spezies Mensch, dass sie auch dann nicht aufhört, der Umwelt Ressourcen zu entziehen, wenn die eigenen Grundbedürfnisse befriedigt sind. Würde man Headrick auf letzte Triebkräfte der Geschichte festlegen wollen, wäre zumindest für das zwanzigste Jahrhundert seine vermutliche Antwort: Bevölkerungswachstum plus Konsumgesellschaft (im Original treffender: „consumerism“).
Doch so einfach macht er es sich und seinen Lesern zum Glück nicht. Ihn interessieren Wechselwirkungen und Kettenreaktionen: Wechselwirkungen verbinden beispielsweise Produktion und Naturausbeutung; wie wenig sich „Wirtschaft“ und „Umwelt“ trennen lassen, wird in diesem Buch an zahllosen Beispielen deutlich. Kettenreaktionen erfolgen oft in Form von Abwärtsspiralen. Solche kumulativen Kalamitäten werden ausgelöst, wenn sich irgendwo Kräfteverhältnisse drastisch verschieben. Das kann durch eine importierte Seuche oder invasive Pflanzenart ebenso geschehen wie durch technische Aufrüstung: die spanischen Pferde bei der Eroberung Mexikos, die Kettensäge in der Forstwirtschaft, die Harpunenkanone im Walfang.
Wenn es den Menschen schlecht geht und ihr Aktivismus gebremst wird, erholt sich die Natur. Der Regenwald überwächst gescheiterte Zivilisationen, im Krieg kehren die Wölfe zurück. Dass ähnliche Ursachen, etwa eine globale Klimaveränderung oder eine Pandemie, zu unterschiedlichen Wirkungen führen können, hängt mit einer lokal variablen Eigenschaft sowohl von Ökosystemen wie von Gesellschaften zusammen, ihrer „Verletzlichkeit“. Vielleicht ist dies die wichtigste Denkfigur einer solchen Art von Umweltgeschichte.
Das Buch erzählt viele Geschichten von einem blinden Sturz ins Verderben. Die Grenze zwischen pfleglicher Naturnutzung und destruktivem Raubbau sei oft unmerklich überschritten worden. Dank der Wissenschaft und ihrer Prognosewerkzeuge weiß man heute über Verletzlichkeit und Kipp-Punkte viel mehr als in früheren Epochen. Die Handlungslähmung nicht nur von Regierungen, sondern auch von gleichgültig-hedonistischen oder ums Überleben kämpfenden Privatmenschen scheint Headricks schwarze Anthropologie umso mehr zu bestätigen.
Wer über all dies nicht abermals belehrt werden will, auch nicht in Daniel Headricks nur leise predigendem Ton, kann das Buch auch anders nutzen, etwa als global ausgreifendes Kompendium der Umweltgeschichte oder als Quelle staunenswerter Informationen. Interkontinentaler Pflanzentransfer in großem Stil wurde erst möglich, nachdem der englische Arzt Nathaniel Ward 1835 das tragbare Gewächshaus (Wardian Case) erfunden hatte. Jährlich stürzen 10.000 Metallcontainer von Schiffen ins Meer. Ein Betrieb mit 200.000 Zuchtlachsen produziert so viel Abfall wie eine Stadt mit 60.000 Einwohnern. Und der Kaschmirpullover ist die Ursache großflächiger Überweidung in China, weil Kaschmir-Ziegen Gras mitsamt seinen Wurzeln fressen, anders als das eine Spur vegetationsfreundlichere Schaf.
Daniel R. Headrick: „Macht euch die Erde untertan“. Die Umweltgeschichte des Anthropozäns. Aus dem Englischen von Martin Richter. Wbg/Theiss Verlag, Darmstadt 2021. 640 S., Abb., geb., 50 Euro.