Lukas Wick: Islam und Verfassungsstaat : Religionsfreiheit ist kein Gottesgeschenk
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Bild: Ergon Verlag
Wie steht es mit dem Verhältnis islamischer Theologie und Justiz zum Verfassungsstaat? Eine exzellente Studie gibt dazu wertvolle Anhaltspunkte und auch Grund zur Ernüchterung.
Die Frage nach der möglichen Integration der mehr als drei Millionen Muslime, die in Deutschland leben, in unsere staatliche und gesellschaftliche Ordnung, wird immer dringlicher. Wie groß sind die Chancen für eine solche Integration, wie groß sind die damit verbundenen Risiken, und welche Wege sind einzuschlagen?
Neben vielen praktischen Fragen sozialer, kultureller, bildungspolitischer Art, die sich hier stellen, ergeben sich auch prinzipielle Probleme. Eines von ihnen ist die immer wieder kontrovers diskutierte Vermittelbarkeit der Religion des Islams mit den Grundsätzen des freiheitlichen Verfassungsstaates. Hier stehen sich verschiedene Ansichten gegenüber. Einige setzen auf einen Euro-Islam, der die Position einer notwendigen Einheit von Religion und Staat hinter sich lasse und deshalb gefördert werden müsse; andere erwarten, dass der Islam in seinem Verhältnis zum säkularen, religiös-neutralen Staat eine analoge Entwicklung durchmache wie die christlichen Kirchen, die die volle Religionsfreiheit schließlich anerkannten; wieder andere gehen von der Unfähigkeit des Islams zu einer solchen Entwicklung aus und fordern Abstandnahme von vergeblichen Integrationsbemühungen.
Tiefliegende theologische Denkmuster
Welche dieser Einschätzungen hat mehr für sich? Um dies zu beurteilen, bedarf es der näheren Befassung und Auseinandersetzung mit der Religion und den theologischen Denkmustern des Islams selbst. Man findet eine solche Auseinandersetzung in einer in Bern entstandenen Dissertation, die ihren Gegenstand umsichtig und unvoreingenommen behandelt.
Die perfekte Kenntnis des Arabischen ermöglicht dem Autor Lukas Wick dabei den Umgang mit Texten in der Originalsprache. Sie sollen ihm Aufschluss darüber geben , inwieweit eine Versöhnung der Religion des Islams mit dem freiheitlichen Verfassungsstaat möglich erscheint und erwartet werden kann. Dafür kommt es nach Wick entscheidend weder auf den politischen Islamismus an noch auf die islamischen Intellektuellen, die sich vorwiegend in Europa artikulieren, sondern auf die Theologie im Islam, also die theologischen Schulen, die gerade in den Staaten des Vorderen Orients und weit in die muslimische Bevölkerung hinein Wirksamkeit entfalten.
Nach dem Beispiel christlicher Kirchen?
Der Autor stützt sich auf das Konzept des freiheitlichen Verfassungsstaates, der eng mit der Säkularisierung der politischen Ordnung verbunden ist. Zu ihm gehören auch die grundsätzliche Trennung von Religion und Staat, die Anerkennung menschenrechtlich fundierter Religionsfreiheit, welche die negative Religionsfreiheit als Abkehr vom bis dahin ausgeübten Glauben einschließt, sowie weitere Freiheitsrechte. Im Hintergrund steht dabei, wie christliche Kirchen auf dieses Konzept des Verfassungsstaates reagierten: ein Prozess, der von entschiedener Abwehr, insbesondere von Seiten der katholischen Kirche, zu einer zunächst pragmatischen, dann auch doktrinellen Neuorientierung führte.
Das Verhältnis des Islams zum Verfassungsstaat ist nach Wick von vornherein zwiespältig. Die Begegnung mit dem Konstitutionalismus stand zum einen im Zusammenhang mit dem vom europäischen Kolonialismus ausgehenden Modernisierungsdruck, zum andern beschränkte sich die Etablierung von Verfassungen in islamischen Staaten im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert auf formal-organisatorische Aspekte, ohne die materielle freiheitliche Grundlage des Verfassungsstaates mit einzubeziehen.
Die Eigenart islamischer Theologie
Diese Art Konstitutionalismus, die durchaus säkularisierende Elemente in sich enthielt – besonders nachhaltig im Fall der kemalistischen Türkei – wurde in der intellektuellen Auseinandersetzung zwar formal akzeptiert. Sie blieb und bleibt aber ohne breite Zustimmung und kulturelle Akzeptanz, erscheint nicht selten auch als westlich-christliche Aufdrängung. Die politische Opposition reklamiert demgegenüber den Rückgriff auf die eigene islamische Tradition und Religion, woraus sie eine kämpferische Ideologie entwickelt, die gegen korrupte Machthaber und westliche Dominanz in Anschlag gebracht wird. Die Herausarbeitung einer idealisierten islamischen Frühzeit in der theologisch-historischen Literatur leistet ihr dabei ungewollt gute Dienste. Beides öffnet ein Einfallstor für Fundamentalismen, nicht zuletzt in der Lesart des Islams durch theologische Laien der aufstrebenden städtischen Bürger- und Mittelschicht. Das Vordringen entsprechender fundamentalistischer Konzepte scheint vom geschichtlich-politischen Auf und Ab abhängig. Oder steht dahinter doch eine immer wiederkehrende islamisch-religiöse Substanz?
Es ist diese Frage, der der Autor nachspürt, indem er die Eigenart der islamischen Theologie im Unterschied zu der uns gewohnten christlichen Theologie herausarbeitet: ihre Existenz in Schulen von unterschiedlichem Ansehen, aber ohne verbindliche lehramtliche Autorität, die Rolle der ausgebildeten Religions- und Rechtsgelehrten (ulama), die von erheblicher Prägekraft für die öffentliche Debatte sind, die geschichtlichen Entwicklung und Veränderung der theologischen Lehren, nicht zuletzt der Neuausrichtung unter Einfluss des Religionsgelehrten Abdul und seiner Nachfolger, zu der auch eine starke Einbeziehung des Rechts gehört, abgeleitet vom „islamischen Gesetz“ als integralem Bestandteil des Glaubensverständnisses. Im Unterschied zum Christentum diagnostiziert der Autor eine eher vernunftkritische Einstellung und ein unentwickeltes anthropozentrisches Potential. Hingewiesen wird auch auf die Lehre von einer (angeborenen) islamischen Urnatur des Menschen, die in ihren Auswirkungen der naturrechtlichen Gleichheit der Menschen entgegensteht, schließlich auf das Verständnis des Korans als unmittelbare Herabkunft Allahs in Form einer Buchoffenbarung, was einen literarischen Umgang mit ihm als Text im Grunde ausschließt.
Ein ernüchternder Befund
Dies alles findet auch seinen Niederschlag im islamisch-theologischen Diskurs mit Blick auf den modernen Verfassungsstaat. Wobei Letzterer nicht direkt zum Gegenstand theologischer Auseinandersetzung gemacht wird, sondern eher im Vorbeigehen einzelne Probleme aufgegriffen werden. Gleichwohl lässt sich daraus ein einigermaßen deutlicher und auch ernüchternder Befund gewinnen.
Die Säkularisierung wird demnach entweder als Ausdruck von Gottlosigkeit angesehen oder als lediglich christliche Antwort auf ein christliches Problem abgewehrt. Der Konstitutionalismus wird zwar als organisatorisch-formales Modell hingenommen, aber in seinem Freiheitsgehalt nicht innerlich akzeptiert. Bewahrung beziehungsweise Verwirklichung der göttlichen Ordnung bleibt die grundsätzliche Aufgabe des Staates. Religionsfreiheit wird deshalb nie voll akzeptiert und in der Regel nur im islamischen Deutungshorizont der Toleranz für die Buchreligionen anerkannt – weitab also von einer menschenrechtlichen Fundierung in der Gleichheit des Menschseins. Toleranz gegenüber einer Abkehr vom Islam erscheint kaum legitimierbar, Apostasie gilt als Treuebruch und Verrat: Die abweichende Position für das Leben in der Diaspora, die einen Religionswechsel für rechtlich möglich hält und vom Zentralrat der Muslime in Deutschland vertreten wird, ist durchaus umstritten.
Schwierigkeiten mit Glaubenspluralismus
Für den Autor bleiben grundsätzliche Zweifel, ob die islamische Theologie und Jurisprudenz ein konstitutionelles Modell mit Meinungs- und Glaubenspluralismus legitimieren können. Zwar will er die Möglichkeit nicht kategorisch ausschließen, dass Muslime eine freiheitlich konstitutionelle Ordnung akzeptieren, weil es schließlich immer Spielräume zwischen Theorie und Praxis gäbe und auch eine politische Durchsetzung verfassungsstaatlicher Prinzipien, die dann theologische Veränderungen nach sich zieht, nicht undenkbar sei. Doch der Autor bleibt da skeptisch.
Es dürfte schwierig sein, seinen Schlussfolgerungen zu widersprechen, denn sie ergeben sich gerade nicht aus einem Bedrohungsszenario, sondern aus der sorgfältigen Interpretation eines breiten Quellenmaterials. Man sollte die Einsichten des Autors für die eigene Positionsbestimmung nutzbar machen. Welche Konsequenzen ergeben sich also für das Verhalten gegenüber den Muslimen und dem Islam?
Verteidigung des Verfassungsstaats
Einerseits ist es notwendig, dass die Angehörigen des Islams, die bei uns leben, ungeachtet ihrer bestehenden Vorbehalte gegenüber Säkularisierung und Religionsfreiheit ungeschmälert der Rechte teilhaftig werden, die unsere freiheitliche Ordnung gewährleistet. Auf diese Weise wirkt Freiheit am ehesten ansteckend und fördert die Integration. Der Staat hat seinerseits zu verlangen, dass die geltenden Gesetze loyal befolgt werden; darüber hinausgehende „Wertbekenntnisse“ sollte er nicht einfordern. Andererseits hat der Staat dafür Sorge zu tragen, dass solange die von Wick aufgezeigten Vorbehalte fortbestehen, die Angehörigen des Islams durch geeignete Maßnahmen im Bereich von Freizügigkeit und Migration – nicht zuletzt im Hinblick auf die Türkei – in ihrer Minderheitenposition verbleiben, ihnen mithin der Weg verlegt ist, über die Ausnutzung demokratischer politischer Möglichkeiten seine auf Offenheit angelegte Ordnung von innen her aufzurollen. Darin liegt nicht mehr als seine Selbstverteidigung, die der freiheitliche Verfassungsstaat sich schuldig ist.