Kreutzberger und Thurn: Die Essensvernichter : So produzieren wir den Hunger der Welt
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Das Elend der Übersättigung: Stefan Kreutzberger und Valentin Thurn weisen nach, dass die Hälfte aller Lebensmittel im Abfall landet, obwohl das meiste davon noch frisch ist. Ein Wachrüttelbuch an die Gesellschaft.
Ein Akt der Verachtung: einwandfreie, teils um den halben Erdball bewegte Lebensmittel wandern unangerührt in den Abfall. Oft genug landen sie auf Müllkippen, wo Bakterien sie in den Klimakiller Methan umwandeln. Allein in Deutschland werden im Jahr 6,6 Millionen Tonnen Lebensmittel mit einem Wert von fünfundzwanzig Milliarden Euro weggeworfen. Weit mehr als die Hälfte davon wäre vermeidbar. Rechnet man die hohen Ernte- und Transportverluste hinzu, ergeben sich skandalöse Größenverhältnisse: Ein Drittel der Weltproduktion an Nahrungsmitteln für den Menschen landet auf Abfallbergen. Die Industriestaaten verklappen sogar nahezu fünfzig Prozent; Deutschland ist für bis zu zwanzig Millionen Tonnen jährlich verantwortlich. Allein der Lebensmittelmüll hat größeren Anteil am Klimawandel als der gesamte Verkehr.
Zugleich hungern heute mehr Menschen als je zuvor. Die verschwendeten Nahrungsmittel würden zwei- bis dreimal ausreichen, alle Hungernden zu versorgen. Wenn eine Gesellschaft jeden Respekt vor Lebensmitteln verloren hat, dann läuft etwas grundfalsch: Diese Feststellung steht am Beginn des Buches über die „Essensvernichter“ von Stefan Kreutzberger und Valentin Thurn, das seinerseits Teil einer von vielen Verbraucherorganisationen unterstützten Kampagne ist, zu welcher Filme, aber auch Diskussionsrunden, Schulbesuche und spektakuläre Aktionen wie von Spitzenköchen zubereitete „Müllbuffets“ gehören, die selbst Tim Mälzer nicht verschmähte.
„gigantische Nahrungsmittelverschwendung“
Ist es nun Fanal oder bloß Modephänomen, dass zu unserer Zeit das weltrettende Kampagnenbuch gehört? Eigentümlich ist diesem Konversionsschrifttum mit NGO-Internetadressen im Anhang die holistische Perspektive: Ob es um soziale Ungleichheit, den Klimawandel, die Rechte der Frauen oder unsere Entfremdung von Natur und Ernährung geht, stets wird universalistisch argumentiert, aber gleichwohl im Partikularen angesetzt. Es gilt, das System zu ändern von unten nach oben. Im Ernährungssektor dominierte indes lange der egozentrische, qualitätsbezogene Zugang, und das mit einiger Berechtigung, gleichen doch viele Lebensmittel heute Chemiecocktails, die man ehrlicherweise als Sondermüll zu klassifizieren hätte. Neunzig Prozent der Verbraucher misstrauen inzwischen der Industrie, wie neuere Studien belegen.
In jüngerer Zeit rücken jedoch auch hier ethische Fragen in den Vordergrund. Die fatale Ausbreitung des Hungers aufgrund der Monokultur- und Gentechnik-Strategien der Nahrungsmittel-Weltkonzerne ist inzwischen ein stark debattiertes Thema. Der profundeste Angriff aufs gute Endverbrauchergewissen war zuletzt Jonathan Safran Foers Vegetarismus-Plädoyer unter dem Titel „Tiere essen“ (F.A.Z. vom 13. August 2010). Es ist hierzulande im selben Verlag erschienen wie das „Essensvernichter“-Buch, das nicht nur in Appellstruktur und der Verbindung von Statistiken mit persönlichen Erfahrungen an „Tiere essen“ anschließt, sondern einmal mehr den maßlosen Fleischkonsum geißelt, nämlich als „gigantische Nahrungsmittelverschwendung“, weil bei der Mast ein Vielfaches an Wasser und Nährwert verbraucht werde. Auch das bevorstehende Aussterben der Fische durch Überfischung der Meere und die gigantischen „Beifang“-Mengen werden hier wie dort thematisiert.
Ein Wachrüttelbuch voller Zuversicht
Seltener schon hat man das Problemfeld Ernährung von der Verklappung her aufgerollt, obwohl sie vor unser aller Augen stattfindet: Allein fünfhundert Millionen Kilogramm Brot vernichtet Deutschland jährlich, meist am selben Tag erst gebacken. Ein breiteres Medienecho hat indes das Phänomen des „Containerns“ - Ökoaktivisten, die von Supermarktmüll leben - gefunden. Kreutzberger und Thurn erheben denn auch gar keinen investigativen Anspruch. Ihre Absicht ist es vielmehr, alle Ansätze zu bündeln, um so die für eine soziale Bewegung notwendige kritische Masse zu erreichen, denn „wirkliche Veränderungen wird es nur geben, wenn der öffentliche Druck kontinuierlich aufrechterhalten wird“.