Hörbuch zu Zadeks „Hamlet“ : Ob wir noch einmal davonkommen?
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Zweimal brach sie ab: Zadek und seine Hamlet-Darstellerin Angela Winkler in Paris während einer Probenpause. Bild: AFP
Aus der Hexenküche des Welttheaters: Klaus Pohl erinnert sich an die alles fordernde Probenarbeit zu Peter Zadeks Wiener „Hamlet“-Inszenierung aus dem Jahr 1999. Ein Hörbuch als Schicksalsbericht.
Theaterproben sind normalerweise für Außenstehende unzugänglich. Die Künstler, die im Begriff sind, eine neue Welt zu erschaffen, wollen sich dabei nicht in die Karten blicken lassen. Sie brauchen die Proben als geschützten Raum, in dem sie tun und treiben können, was sie wollen. Wenn sie dann fertig sind, sollen natürlich möglichst viele Leute zuschauen, ach was, alle! Aber bis es so weit ist, herrscht striktes Besuchsverbot in der Hexenküche. Lediglich in Ausnahmefällen werden Journalisten oder ausgewählte Personen kurz dazu gebeten, um die Öffentlichkeit über den Stand der Dinge zu informieren und um die allgemeine Neugier anzuheizen.
Dem Schauspieler und Autor Klaus Pohl ist in dieser Hinsicht ein wahrer Coup gelungen. Er war als Horatio nicht nur an Peter Zadeks legendärer Inszenierung von William Shakespeares „Hamlet“ aus dem Jahr 1999 beteiligt, sondern führte auch ganz offiziell Probentagebücher – im Grunde ja im Sinne seiner Rolle. Denn im Sterben gibt Hamlet seinem Freund Horatio den Auftrag: „Berichte von meinem Schicksal!“ Und so erinnert sich Pohl in dem Hörbuch „Sein oder Nichtsein“ mit „wohltemperierter dichterischer Freiheit“ an die „abenteuerliche Expedition“ dieser Theaterproduktion, die für alle eine extreme Herausforderung bedeutete: „Ob wir hier mit dem Leben davonkommen?“
Spektakulär hatte Peter Zadek das Stück bereits 1977 in Bochum mit Ulrich Wildgruber in der Titelrolle inszeniert. Der gehörte nun erneut zum Ensemble, allerdings als Hofschranze Polonius. Mit Angela Winkler hatte sich Zadek eine Frau gewünscht, die, wie dereinst Sarah Bernhardt oder Asta Nielsen, den Hamlet spielen sollte. Allein schon diese Konstellation barg einiges an Zündstoff: Angela Winkler, die ihre liebe Not hatte, sich auf den komplizierten Dänenprinzen einzulassen, dem Shakespeare den meisten Text aller Rollen der Weltliteratur geschenkt hat, und Ulrich Wildgruber, der gegen diese Besetzung stänkerte und pöbelte, weil er es schlecht verkraftete, nicht mehr im Zentrum der Aufführung zu stehen, überdies gesundheitliche und psychische Probleme hatte.
Angela Winkler flüchtete zweimal vor Hamlet und Zadek, was den Probenbetrieb erheblich beeinträchtigte und die Kolleginnen und Kollegen beunruhigte. Doch Zadek wollte sie gegen alle Widerstände – auch gegen ihre eigenen. Als mitteilsamer Eingeweihter erzählt Klaus Pohl von der Lust des Beginnens und den Mühen der Ebene in dieser Arbeit, von Euphorien und Ängsten, von Animositäten und Gefährdungen, von üblen Krächen und lustigen Nächten in den Kneipen Straßburgs, wo die Proben und die „Preview“ der Koproduktion unter anderem zwischen dem Théâtre National de Strasbourg und den Wiener Festwochen stattfanden, die dann die Premiere zeigen durften. Alle Szenen, die er witzig, klug und spannend schildert, sind in einem durchgehend überzeugenden Ton gehalten, ob er sich die Perspektive von Winkler oder Wildgruber, Hermann Lause (Geist von Hamlets ermordetem Vater) oder Eva Mattes (Königin Gertrud), Otto Sander (König Claudius), Annett Renneberg (Ophelia) oder Uwe Bohm (Laertes) zu eigen macht. Packend gelingt ihm ein atemberaubender, grandios plastischer, hinreißend intensiver Probenroman, der die Aufführung ahnen lässt, indem er die anstrengenden Schritte hin zu ihr so leidenschaftlich wie liebevoll und so kenntnisreich wie warmherzig ausformuliert.
Selten konnte man derart differenziert und eindringlich nachvollziehen, wie schwer die höchste Theaterkunst zu schaffen ist und welche Hingabe und Leistungsbereitschaft sie sämtlichen Beteiligten immerzu auf höchstem Niveau abverlangt. Dass zahlreiche Akteure aus Peter Zadeks All-Star-Team („Die Schauspieler, die ich liebe, haben alle einen Knall“) inzwischen verstorben sind wie der Meister selbst, ist dabei gar nicht von Belang, denn alle Mitwirkenden samt der Assistenten, überhaupt die Atmosphäre, das Ethos der Kunst und die Winkelzüge ihrer Realisierung sind in dieser Erinnerung absolut lebendig geblieben – sie sind ganz und gar von heute.
Das Hörbuch wurde bereits im Jahr 2017 bei einer Lesung im Theater Fleetstreet in Hamburg aufgezeichnet. Klaus Pohl trägt seinen Text selbst vor, zügig, unsentimental und pointensicher. Man hört ihm fast sechs Stunden lang gebannt zu, wie er dramatisch ausholt, die Situationen ausmalt, dann wieder auf den Punkt kommt, die Protagonisten in treffend-funkelnden Dialogen zärtlich imitiert. Leider ist der CD kein Booklet mit weiterführenden Informationen wie etwa einem Rollenverzeichnis beigefügt, was die akustische Orientierung gerade am Anfang erleichtern würde. Ein Skandal ist es freilich, dass bislang kein Buchverlag Klaus Pohls einmaliges Manuskript drucken wollte. Insofern gebührt dem Audio Verlag größter Dank, dass er dieses Dokument als profundes Zeugnis für ein Stück Welttheater veröffentlicht hat.
Klaus Pohl: „Sein oder Nichtsein. Erinnerungen an Peter Zadeks legendäre Hamlet-Inszenierung“. Der Audio Verlag, Berlin 2020, 1 mp3-CD, 324 Min., 10,– €.