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Klaus Kreimeier: Traum und Exzess : Früher war die Kamera ein Maschinengewehr

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Bild: Verlag

Als die Bilder sich ihre Zuschauer erfanden: Klaus Kreimeiers analytische Reise in die Pionierjahre des Kinos ist nicht nur für Experten ein Leseerlebnis.

          4 Min.

          Im Jahr 1910 machte der österreichische Schriftsteller Berthold Viertel eine bemerkenswerte Beobachtung mit zwei Körpern zweier Kaiser. Wilhelm II. ist zu Besuch in Österreich, gemeinsam mit Franz Joseph I. lässt er sich einen Film vorführen, der ebenjenen Staatsbesuch dokumentiert, auf dem er sich gerade befindet. „Sie sahen dort sich selber zu“, notiert Viertel. „Sie sahen ein getreues Abbild ihrer selbst, welches zu sprechen, zu grüßen oder zu lachen schien. Und das Publikum im Bilde applaudierte. Und das Publikum im Zuschauerraum applaudierte auch. Und die Monarchen im Bilde dankten. Und die wirklichen Monarchen dankten in der Wirklichkeit. Aber plötzlich riss ein Film, und es ward dunkel.“ Dem Autor, der sich diese Szene genaugenommen nur ausgedacht hat, läuft es dabei nichtsdestoweniger „kalt über den Rücken. Wie? Ging dieser Riss auch durch die Wirklichen? Und mit Entsetzen fragte ich mich: Ja, wer ist denn hier der Wirkliche?“

          Was Viertel hier beschreibt, fasst er selbst gleich in Begriffe: Mit der Erfindung des Kinos entsteht ein „furchtbares Doppelgängertum der Repräsentation“. Das frühe Kino gab sich in dieser Episode gleich einmal epochal zu erkennen - als Repräsentationsmedium, das sich gegebenenfalls der Repräsentation bemächtigt oder aber: das diese in die Unverfügbarkeit technischer Abläufe stellt. Den Riss, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch die beiden zentraleuropäischen Monarchien ging, hat wohl nicht nur Berthold Viertel bemerkt. Aber er fand dafür ein brillantes Bild, das nach vorne weist - in unsere eigene Gegenwart, in der die Bildpolitiken der Macht keineswegs so viel raffinierter sind als vor hundert Jahren.

          Ein Durcheinander der Körper und Sinne

          Für den Medienwissenschaftler und Filmhistoriker Klaus Kreimeier, der in seinem neuen Buch aus dem digitalen Zeitalter auf die Werdejahre der Laufbilder zurückblickt, ist der satirische Text von Berthold Viertel ein perfektes Beispiel für die neuen Erfahrungen, die mit der Erfindung des Films im späten 19. Jahrhundert auf die Menschen zukamen. Was für die Kaiser galt, galt gleichermaßen für jeden durchschnittlichen Besucher einer Vorführung in einem Nickelodeon oder einem Varieté: Wo immer ein Film eingelegt und projiziert wird, „drängt ihm das Kino ein größeres Lebensstück auf, als ihm das Leben zuführen würde“. (Victor Klemperer im Jahr 1912.)

          In diesem Befund einer Intensivierung durch Technik klingt schon an, vor welcher Aufgabe ein Buch wie das von Kreimeier steht. Denn das frühe Kino als eines der Parademedien der Moderne ist inzwischen von einer formidablen Mythologie der Modernität umstellt: Schock (in allen Schreibweisen), Nervosität, Massenkonsum, Sensation, „ein Durcheinander der Körper und Sinne“ (Thomas Elsaesser) sind geläufige Topoi der Überlieferung der ersten Jahrzehnte des Films. Vielfach sind die feuilletonistischen Beobachtungen der Zeitgenossen zu Schlagwörtern der Geschichtsschreibung geworden, und die Filmwissenschaft hatte in der jüngeren Zeit gut damit zu tun, dagegen die Kärrnerarbeit der detaillierten Untersuchung von Filmen einerseits vor der Ausprägung eines erzählerischen Grundtypus, andererseits der sozialen und technischen Entwicklung des neuen Massenmediums zu setzen.

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