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Karl Marlantes: Matterhorn : Verzückungsrausch im Gemetzel

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Den Ignoranten zeigen, wie es wirklich war: Mit dem Vietnamkriegs-Roman „Matterhorn“ legt der ehemalige amerikanische Soldat Karl Marlantes buchstäblich sein Lebenswerk vor.

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          Vietnam ist für Amerikaner das Trauma, das nicht vergeht. Kein anderer Krieg ist so oft Gegenstand von Romanen und Filmen geworden, keiner scheint zugleich so diskreditiert. Die Entmythisierung hat längst selbst mythische Formen angenommen: Vietnam als ungerechter Krieg, als psychedelischer Exzess wie in „Apokalypse Now“, als hybride Mischung von Pop und Tod, als tiefste moralische Blamage der Weltmacht.

          Als der fünfundzwanzig Jahre alte Karl Marlantes im Sommer 1970 nach seinem dreizehnmonatigen Einsatz in Vietnam durch Washington ging, geriet er in eine Gruppe von Antikriegsdemonstranten, die ihn als „Babykiller“ beschimpften. Ohnmächtige Wut bis zum - noch von den Einsätzen eingespurten - Tötungsimpuls packte ihn. Wofür hatte er sein Leben eingesetzt, wofür war er schwer verwundet worden? Seitdem rumorte in Marlantes ein literarisches Projekt, das sich schließlich zum Roman „Matterhorn“ auswuchs: den Ignoranten zeigen, wie es wirklich war. Es ist buchstäblich ein Lebenswerk, dessen Intensität die meisten anderen Kriegsromane übertrifft.

          Ein urologisches Schreckensszenario

          Hauptfigur ist der junge Second Lieutenant Waino Mellas. Er kommt frisch vom Campus und hat sich freiwillig gemeldet. Teils ist es der Wunsch, nicht als privilegierter Drückeberger dazustehen, teils auch die Vorstellung, dass der eine oder andere Orden später im zivilen Leben nützlich sein könnte.

          Auf den ersten hundert Seiten fällt kein Schuss, aber gekämpft wird trotzdem: mit dem Monsunregen und der eiternden „Dschungelfäule“ auf der Haut, mit Wundbrand an den Füßen, blutigen Schnitten vom „Rasiermessergras“, ewigem Dreck und Gestank, der Langeweile und der Angst und den unermüdlichen Blutegeln. Ausgiebig werden die Qualen eines Soldaten beschrieben, dem ein Egel in die Harnröhre gekrochen ist. Eine Notoperation wird improvisiert - den Leser erwartet ein urologisches Schreckensszenario.

          Grenzzustände des Menschlichen

          Mellas und seine Soldaten erfüllen Aufträge, deren Zweck nicht ersichtlich ist. Das Matterhorn, eine Bergkuppe mitten im Dschungel an der Grenze zu Laos und Nordvietnam, wird von Vegetation befreit und planiert, die Soldaten graben Erdlöcher und Bunker, errichten Geschütze. Kaum sind sie fertig mit der Schinderei, sollen sie das Matterhorn, diese „hässliche Knolle“, auch schon wieder verlassen und im fast undurchdringlichen Dschungel nach Vietcong-Waffenlagern suchen. Über Funk erteilt der Kommandeur der taumelnden Truppe immer neue Zusatzaufträge. Es ist ein einziger Albtraum.

          Grenzzustände des Menschlichen werden ausgelotet. Die eigentliche Schlacht beginnt erst nach vierhundert Seiten. Inzwischen haben sich die Nordvietnamesen auf dem Matterhorn eingenistet. Gegen die von ihr selbst gebauten Befestigungen soll die Bravo-Kompanie nun anrennen - ein absurdes Todeskommando. „Natürlich brauchten Sie den Scheißberg nicht. Sie hatten ihn ja selbst geräumt.“ Es geht um gegnerische Verlustzahlen, mit denen ein Kommandeur seine stagnierende Karriere voranzubringen hofft.

          Psychologie des Ausnahmezustands

          Mit rüder Genauigkeit wird die nicht endende Verstümmelungsorgie beschrieben, all die aufgerissenen Leiber, herausquellenden Eingeweide, abgerissenen Beine, platzenden Köpfe und weggeschossenen Unterkiefer. Das erinnert an den zeitlupenhaften Hyperrealismus der ersten zwanzig Minuten des Spielberg-Films „Der Soldat James Ryan“ - mit dem Unterschied, dass Marlantes keine unbekannten Soldaten sterben lässt, sondern Figuren, die sich aus den Dialogen und Beschreibungen des Romans langsam, aber nachhaltig konturiert haben. Er schafft es beeindruckend, die unterschiedlichen Typen und Temperamente in der Truppe zu schildern.

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