Jay H. Gellers „Die Scholems“ : Sicherheit stellte sich nie mehr ein
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Solidarität trotz ideologischer Differenzen
Die parallele Darstellung der Lebensläufe führt Geller das Buch über fort: bei der aus Walter Benjamins „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“ schöpfenden Darstellung der frühen Lebensjahre der Brüder, die auf den Anspruch des Vaters auf Fortsetzung der beruflichen Erbfolge unterschiedlich reagierten; bei der Darstellung der gegenläufigen Politisierung infolge des Ersten Weltkriegs; schließlich bei der Beurteilung der Weimarer Republik als Epoche der Demokratisierung oder Präludium zum Nationalsozialismus.
Die Stärke von Gellers Buch liegt in der Fähigkeit zur Zusammenschau, die es ermöglicht, durch kontrastiven Blickwechsel nachvollziehbar zu machen, wie die zeitweise Verfeindung der Brüder, aber auch ihre trotz ideologischer Differenzen bestehende Solidarität aus der unterschiedlichen Verarbeitung gemeinsamer Erfahrungen entsprangen. Auf diese Weise erscheint die Unerbittlichkeit Gershoms gegenüber der Versöhnungspolitik der Bundesrepublik und ihrem Pathos des „Dialogs“ als Revokation der Feindseligkeit Werner Scholems gegenüber dem Weimarer Pathos von Republikanismus und Demokratie. Und im „Sydney und Jerusalem“ überschriebenen Kapitel über das „Nachleben“ im Wohnort von Erich und Reinhold in Australien und am Wirkungsort von Gershom in Israel veranschaulicht Geller, wie trotz der ökonomischen und politischen Sekurität sich bei beiden Brüdern nie wieder ein Gefühl von „Sicherheit“ einzustellen vermochte, was sich in Gershoms skrupulöser Beaufsichtigung seines intellektuellen Erbes ebenso niederschlug wie in Erichs Versuch, als Fünfzigjähriger in die australische Armee einzutreten.
Was Gellers Erschließungsleistung allein trübt, ist die Neigung zur anteilnehmenden Beobachtung, die schon im Prolog seinen Protagonisten Gefühle (Neugier, Argwohn) zuschreibt, ohne dass diese dokumentiert wären. Auch das durchgängig verwendete retrospektive Futur – „Aus seinen Vorträgen wird später ein Buch entstehen“ – schreibt der Studie eine Teleologie ein, die durch das Verfahren der kontrastiven Montage gerade dementiert wird. Doch das sind stilkritische Einwände gegen ein Buch, von dem zu hoffen ist, dass es für die Erforschung der neueren deutsch-jüdischen Geschichte kanonisch wird.
Jay H. Geller: „Die Scholems“. Geschichte einer deutsch-jüdischen Familie. Aus dem Englischen übersetzt und für die deutsche Ausgabe bearbeitet von Ruth Keen und Erhard Stölting. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 462 S., Abb., geb., 25,– €.