„Islamischer Staat“ : Kein Ausweg im Nahen Osten
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Die amerikanische Militärstrategie berücksichtigt viele Faktoren nicht. Etwa die Frage der Sunniten – und was mit dem Vakuum geschehen soll, den der IS einmal hinterlässt. Bild: dpa
Den „Islamischen Staat“ könnte es bald nicht mehr geben, lautet das Fazit mehrerer Buchautoren. Doch sein Ende muss noch lange nicht bedeuten, dass der Dschihadismus keine Zukunft hat.
Was geschieht, wenn der „Islamische Staat“ (IS) in Syrien und im Irak militärisch besiegt ist, wenn sein „Kalifat“ kein Territorium mehr hat? Zur Gewissheit wird immer mehr, dass dann nichts besser wird im Nahen Osten. Denn dann braucht es die Anti-IS-Koalition nicht mehr, die einzige mehr oder weniger funktionierende und breite Allianz gegen den Terror, und ihre Mitglieder werden wieder gegeneinander kämpfen; es wird ein Comeback von Al Qaida geben, und der IS wird seinen Terror aus dem Untergrund fortsetzen. Auch ein Sieg über den IS wird den Nahen Osten einem Frieden nicht näher bringen, und der Dschihadismus wird nicht verschwinden.
Denn die Gründe, die den IS ermöglicht haben, bleiben. Im großen Panorama sind sie auch der Schlüssel zum Verständnis für die miteinander verwobenen Konflikte und Kriege im Nahen Osten. Daher bleibt der IS ein Thema. Aus der Flut von Publikationen über ihn ragt die handliche Studie der beiden jordanischen Islamismus-Experten Hassan Abu Hanieh und Mohammad Abu Rumman heraus. Mit großer Detailkenntnis zeichnen sie nach, wie korrupte Diktaturen, sich verschlechternde soziale Bedingungen und ein geistiger Stillstand den Nährboden für Terrorgruppen wie die IS und der Nusra-Front gebildet haben.
Die sunnitische Krise berücksichtigen
Erschreckend ist, wie die Besetzung des Iraks im Jahr 2003, die das Ende des Kriegs gegen den Terror hätte markieren sollen, den Raum für die Ausbreitung der dschihadistischen Ideologie geschaffen hat, mit einem IS, dessen staatliche Strukturen die Autoren herausarbeiten. Erschreckend sind auch die beiden wichtigsten Ideologen, auf die sich der IS stützt. Der Titel des Hauptwerks von Abu Bakr Nadschi lautet „Die Verwaltung der Barbarei“. Nadschi fordert, Chaos zu nutzen und – dazu entwickelt der Autor zehn Leitlinien – zu erzeugen, um daraus einen islamischen Staat aufzubauen. Abdullah al Muhadschir fordert hingegen in seiner „Rechtslehre vom Töten“ auf, jeden „Ungläubigen“ zu töten, dem man gegenüberstehe.
Die beiden Autoren sind überzeugt, dass der IS auf Dauer nur besiegt werden könne, wenn gelöst werde, was sie die „sunnitische Krise“ nennen. Denn viele sunnitische Muslime würden sich dem IS nur deswegen anschließen, weil sie sich marginalisiert fühlten und im IS eine „effektive Widerstandsalternative“ sähen. Die amerikanische Strategie gegen den IS berücksichtige das nicht, bedauern sie.
Abu Hanieh und Abu Rumman zeichnen ein düsteres Bild von der Zukunft der arabischen Welt. Friedliche Änderungen, etwa um die bedrückenden sozioökonomischen Umstände zu verbessern, sehen sie nicht. Sie erwarten den Zerfall von weiteren Gesellschaften und sehen die Gefahr, dass der IS in der gesamten arabischen Welt als Vorbild für weitere Milizen dienen könnte. Als das wahrscheinlichste Szenario sehen sie „Chaos, Gewalt und politischer und geographischer Zerfall unter Rückgriff auf ,primitive Muster‘“.
Macht gegenüber den Städtern
Wer sich mit dem IS beschäftigt, kommt an diesem Buch nicht vorbei. Gespart hat der Verlag leider, indem er auf einen Index verzichtet hat. Das ist bei der ebenfalls gründlich recherchierten Monographie von Fawaz Gerges anders. Auch der an der London School of Economics lehrende Gerges arbeitet die gesellschaftlichen und politischen Faktoren heraus, die den IS ermöglicht haben und zeichnet ihn als eine gesellschaftliche Bewegung, die in transnationale Netzwerke eingebettet ist.