: Ich, der Baum
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Längst ist das Projekt Postmoderne verdächtig, vor allem in der Philosophie. Manche sind ihrer überdrüssig, bedeutet sie in vielen Fällen doch nur die dumpf-empirische Willkür eines "Man kann es so, aber auch ganz anders sehen", und wenn sich zum hundertsten Mal jemand in die Beliebigkeit flüchtet und ...
Längst ist das Projekt Postmoderne verdächtig, vor allem in der Philosophie. Manche sind ihrer überdrüssig, bedeutet sie in vielen Fällen doch nur die dumpf-empirische Willkür eines "Man kann es so, aber auch ganz anders sehen", und wenn sich zum hundertsten Mal jemand in die Beliebigkeit flüchtet und vom "Stammeln an den Rändern der Sprache" stammelt, vom theoretisch zur Genüge vermessenen "Körper" schwärmt und vom ach so düster-verlockenden "Anderen", dann möchte man seine eckige Brille kaputtmachen oder ihn zumindest kräftig schütteln. Vielleicht bringt es ja was.
Anders verhält es sich bei dem Biologen und Philosophen Andreas Weber. In seinem Buch "Natur als Bedeutung - Versuch einer semiotischen Theorie des Lebendigen" stößt man neben postmodernem Allerweltsvokabular schnell auf Begriffe, vor denen man sich fast erschrickt, so aus der Mode sind sie gekommen: Da ist die Rede vom "Naturschönen", von der "Bedingung der Möglichkeit" und von der "Bedeutung als Apriori", und tatsächlich wagt sich Weber an ein äußerst anspruchsvolles Unternehmen: Die Theorie einer nicht nur auf evolutionärer Auslese basierenden, vielmehr selbst Bedeutung schaffenden Natur; ein Ansatz, der sich nicht im Kleinen verheddert, sondern unter Berufung auf den letzten Erkenntnisstand der Biologie wagemutig, schlüssig und elegant den Bogen vom biologischen Konstruktivismus zu Kant und Goethe schlägt. Natur ist nicht "das Andere", sondern das Eigene - und das aus der Feder eines Biologen. Das war überfällig.
Es ist nichts weniger als der Versuch, unser heutiges Verhältnis zur Natur und zum Lebendigen vom Kopf auf die Füße zu stellen. Und es ist leicht, ein solches Vorhaben, das einer rationalistischen, mechanistischen Weltsicht zuwiderläuft, zunächst als Esoterik abzutun. Über Goethes Schriften zur Naturwissenschaft und seine Forderung, einen "kategorischen Imperativ der Naturforschung" zu etablieren, lächeln viele noch heute. Dabei ist es vielmehr absurd, daß ausgerechnet in der Biologie, die mit allen darin liegenden Konsequenzen zur Leitwissenschaft des 21. Jahrhunderts aufgestiegen ist, ein newtonsches Weltbild fortbesteht; ein Denken, das etwa in der Physik gar nicht mehr vorstellbar ist und zu einem von Weber wie folgt beschriebenen Paradoxon führt: "Die Wissenschaft des Lebendigen hat keine konsistente Theorie darüber, was das Lebendige überhaupt sei - und kann gleichwohl in seine Mechanik eingreifen."
Dabei stellt Weber einen weiteren Widerspruch fest. Obwohl die Metapher von der "Lesbarkeit der Welt" Allgemeingut geworden ist; obwohl man die wortanalogen Basen-Tripletts des Genoms entschlüsselt hat und selbst die Genetiker behaupten, das "Substantielle sei Diskurs", weil sich Kultur über den semiotischen Code des Genoms Natur aneignet, erlebt man ein "Comeback des Determinismus". Weber schlägt vor, das Ablesen eines Codes als "Zentralstelle des Lebendigen" und damit die zeichentheoretische Sprache der Natur ernst zu nehmen: "Ernster, als es der Code-Determinismus tut." Damit schreibt Weber eine Theorie der Biologen Humberto Maturana und Francisco Varela fort.
In den siebziger Jahren hatten die ein Konzept entwickelt, das besagt, daß Organismen beständig mit ihrer Selbsterschaffung beschäftigt sind; ein Prozeß, der selbstbezüglich und daher zweckgerichtet ist - Luhmann hat diesen Begriff der "Autopoiesis" später auf soziale Systeme ausgeweitet. Der Vollzug des Selbst steckt den Horizont für Erfahrungen in der Umwelt ab: Wenn man so will, eine biologische Untermauerung der kantischen Bedingung der Möglichkeit - und eine Abkehr von einer biologischen Empirie, die ihre Voraussetzungen nicht reflektiert, hin zur Strenge einer selbstreflexiven Notwendigkeit. Weber nun, der in Paris mit Varela geforscht hat, streicht heraus, daß vor diesem Hintergrund des Selbstvollzuges jede Art von Umweltkontakt als bedeutungsvoll erfahren wird: "Vor der Bedeutsamkeit einer Umwelt konstituieren sich lebende Systeme als Subjekte"; eine Realität, die bereits für eine Zelle gilt - sie muß Moleküle und DNS interpretieren. Wie sich nun Bedeutung an einem Außen zeigt, gilt Weber als Schnittstelle einer biosemiotischen Theorie des Organismus und einer semiotischen Theorie des Naturschönen. Autopoiese wird im lebenden Körper sichtbar, "als Ausdruck ästhetisch transparent", wie Weber schreibt. Es ist Kant, der in der "Kritik der Urteilskraft" zum erstenmal von Selbstorganisation gesprochen und in der Parallelführung von ästhetischer und teleologischer Urteilskraft die Sphären von Natur und Kunst verschränkt hat. Goethe zog nach mit seiner Bestimmung des Urphänomens: Ein Begriff, der an einem Ding Gestalt geworden ist; ein Ding, das zeigt, was es ist.
So ist Lebendiges überhaupt erst als Selbstdarstellung zu verstehen. Die Konsequenzen sind weitreichend. Ein Organismus reagiert nicht nur auf mechanische Einwirkung, sondern auf Bedeutung, und beides ist lebenskonstituierend, auch für den Menschen. Eine Theorie, die den Nutzenansatz der Evolutionstheorie in eine semiotische Dimension weiterschreibt, zwingt zum Umdenken, weil sich Natur als "semiotische Realität des Gleichen im Anderen" entpuppt und nicht bloß als Wald, Wiesen und Gensequenzen. "Die Erfahrung von Natur ist unabdingbar für eine tiefe Selbsterfahrung als biosemiotisch verfaßtes Wesen", schließt Weber; eine Weisheit übrigens, bei der man sich höchstens an dem Wort "Selbsterfahrung" stößt und die Goethe um einiges schöner in einem Aphorismus formuliert hat: "Das Höchste wäre: zu begreifen, daß alles Faktische schon Theorie ist. Die Bläue des Himmels offenbart uns das Grundgesetz der Chromatik. Man suche nur nichts hinter den Phänomenen; sie selbst sind die Lehre."
ANNE ZIELKE
Andreas Weber: Natur als Bedeutung. Versuch einer semiotischen Theorie des Lebendigen. Königshausen & Neumann, 201 Seiten.