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Falschmeldungen in England : Fake News laufen immer gut

  • -Aktualisiert am

James Gillrays Karikatur nimmt Richard B. Sheridan aufs Korn, der an seinem Drury Lane Theatre ein gefälschtes Shakespeare-Stück aufführte. Bild: Peter Rawert

Twitter und Facebook sind bloß etwas effizienter: Der Philosoph Ian Keable erzählt von der Verbreitung absurder Nachrichten im England des achtzehnten Jahrhunderts.

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          Am 11. Januar 1749 erschienen in zwei Londoner Tageszeitungen gleichlautende Anzeigen, die Aufsehen erregten: „Im Neuen Theater am Haymarket wird am kommenden Montag ... ein Mann auftreten, der ... dem Publikum eine gewöhnliche Weinflasche zeigen wird. Ein jeder, der es wünscht, kann sie untersuchen. Die Flasche wird auf einen Tisch in der Mitte der Bühne gestellt. Dann wird der Mann ... in voller Sicht des Publikums in sie hineinsteigen und in ihr singen. Während seines Aufenthaltes in dem Gefäß kann jedermann selbiges in die Hand nehmen und mit eigenen Augen sehen, dass es nichts anderes als eine normale Wirtshausflasche ist.“

          Die Nachricht von dem geplanten Stunt verbreitete sich blitzartig. Über Nacht war sie Stadtgespräch. Am Abend der angekündigten Vorstellung war das Haus am Haymarket ausverkauft. Auf dem Parkett sowie in den Rängen und Logen herrschte gespannte Erwartung. Sie wich lautstarkem Unmut, als auch nach geraumer Zeit nichts auf der Bühne geschah. Als ein Sprecher des Theaters schließlich kleinlaut ankündigte, man werde die Eintrittsgelder erstatten, „sofern der Darsteller womöglich nicht erscheine“, entlud sich blanke Aggression. Die Kassen wurden gestürmt, das Theater demoliert. Auf der Straße wurde der abgerissene Bühnenvorhang des Hauses im Licht der Flammen des brennenden Theatergestühls an einem Flaggenmast gehisst. Der Skandal war perfekt.

          Der geistreiche Schelm

          Die Presse Londons – schon um 1750 eine gewaltige Maschinerie – überschlug sich. Wilde Spekulationen über die Person des „Bottle Conjurers“ machten die Runde. Schnell kam das Gerücht auf, ein Mitglied des englischen Hochadels sei der Urheber des faulen Zaubers gewesen. Genährt wurde es durch einen Bericht, nach dem ein „noble contributor“ die Schäden am Theater diskret übernommen hatte. Mehr als zwei Jahrzehnte später stellte sich heraus, dass wahrscheinlich der Zweite Duke of Montague den „Bottle Conjuror“ erfunden hatte. Der Herzog – inzwischen verstorben – galt als „serial practical joker“, als ein gewohnheitsmäßiger „Spaßvogel“, der auch vor derben Streichen nicht zurückschreckte. Offenbar hatte er eine Wette auf die Leichtgläubigkeit seiner Landsleute abgeschlossen. Die „English credulity“ galt Mitte des achtzehnten Jahrhunderts als sprichwörtlich. Der Herzog gewann. Tatsächlich wurde der „Bottle Conjurer“ zum Sinnbild des britischen „hoax“, der zwischen Schabernack und Scharlatanerie oszilliert – zwischen schlichter Eulenspiegelei und hinterhältiger Fälschung der Wahrheit.

          Ian Keable: „The Century of Deception“. The Birth of the Hoax in Eighteenth Century England. ‎
          Ian Keable: „The Century of Deception“. The Birth of the Hoax in Eighteenth Century England. ‎ : Bild: The Westbourne Press

          In einer originellen Monographie geht Ian Keable – in Oxford graduierter Philosoph, Politologe und Ökonom, ehedem Wirtschaftsprüfer und inzwischen (nota bene!) Zauberkünstler – dem Phänomen des „hoax“ im England des achtzehnten Jahrhunderts nach. Anhand von zehn Begebenheiten hat er die Bedingungen seziert, unter denen falsche Nachrichten entstehen, durch moderne Medien Verbreitung finden, sich allmählich verselbstständigen, allerlei Experten hervorbringen oder ruinieren, Justiz und Politik beschäftigen, die Öffentlichkeit spalten und für die Köpfe hinter den Affären mal mit dem Ruhm des geistreichen Schelms und mal mit der Ächtung am sozialen Pranger enden, wenn nicht gar hinter Gittern.

          Spuk- und Poltergeistgeschichten

          Da ist etwa die Geschichte von George Psalmanazar. Der Mann, vermutlich Franzose, gab vor, der erste Ureinwohner aus Formosa zu sein, der nach Europa kam. Angeblich hatten ihn Jesuiten nach Frankreich entführt. Vor ihnen und dem Katholizismus war er nach England entflohen. Schon bald schrieb Psalmanazar ein Buch über Formosa. Sein Inhalt war frei erfunden, insbesondere die detailreiche Schilderung der polygamen Verhältnisse auf der Insel. Gleichwohl oder vermutlich deswegen avancierte es zum Bestseller. Irgendwann mehrten sich Zweifel an seiner Authentizität. Psalma­nazar gestand den „hoax“. Indes: Man verzieh ihm. Fürderhin wurde er freundlich belächelt.

          Weniger gut erging es Mary Toft. Die Dienstmagd aus dem südenglischen Godalming hatte Kaninchen zur Welt gebracht. Herbeigerufene Ärzte untersuchten den Fall und kamen zur Diagnose: „maternal impression“. Die Theorie vom „mütterlichen Eindruck“ besagte, dass starke emotionale Reize bei Schwangeren zu Missbildungen von Föten führen konnten. Tatsächlich hatte Toft berichtet, während einer früheren Schwangerschaft bei der Feldarbeit ein Kaninchen gefangen und mit Heißhunger verspeist zu haben. Die Folge sei eine Fehlgeburt gewesen. Seither habe sie Tag und Nacht an Kaninchen denken müssen. Hinter dem Schwindel stand ein komplexes Geflecht von Personen und Motiven. Er sorgte im ganzen Land für Aufregung. Kaninchenfleisch verschwand von den Speisezetteln. Irgendwann flog die Sache auf. Toft landete vor Gericht. Einige Ärztekarrieren fanden ein Ende.

          Kein Grund zum Naserümpfen

          Dramatisch verliefen auch zwei Spuk- und Poltergeistgeschichten, von denen Keable berichtet, der Versuch, die erste Ballonfahrt auf englischem Boden zu inszenieren, und auch die vorgetäuschte Entführung einer gewissen Elizabeth Canning, die eine Gefangenschaft von vier Wochen angeblich mit ein paar Brotkrumen und einer halben Kanne Wasser überlebte. Die Schuldzuweisungen, die in ihrem Fall kursierten, hatten xenophobe Züge. Es seien die „Egyptians“ gewesen, eine Umschreibung für das Wort „Zigeuner“.

          Gewiss: Das analytische Extrakt, das Keable seinen Fällen entzieht, könnte höheres Abstraktionsniveau haben. Erkenntnisse aus der Wissenschaftsgeschichte, die die Scharlatanerie betreffen, fließen in die Arbeit eher sparsam ein. Einige seiner Schlussfolgerungen wirken überdies etwas gequält, etwa die Versuche, „hoax“-Fälle unter Gendergesichtspunkten zu interpretieren. Dennoch ist das Werk überaus anregend. Man erfährt viel über die englische Gesellschaft des achtzehnten Jahrhunderts. Man lernt, dass auch Benjamin Franklin und Jonathan Swift Urheber von Fake News waren. Ein riesiger Anmerkungsapparat, den Keable ins Netz gestellt hat, ermöglicht den Zugriff auf entlegene Quellen. Und die Abbildungen von Karikaturen zeitgenössischer Künstler führen vor Augen, welchen Stellenwert die Debatte um „English credulity“ hatte.

          Manche der Geschichten, die Keable erzählt, mögen heute absurd und der Umgang mit ihnen naiv erscheinen. Aber zum Naserümpfen besteht kein Grund. Denn was unterscheidet die Behauptung, dass Impfungen gegen Corona homosexuell machen und Bill Gates uns durch sie „chippen“ will, von der Theorie vom „mütterlichen Eindruck“? Die Antwort: Nur etwas mehr als dreihundert Jahre Fortschritt bei den Verbreitungstechniken.

          Ian Keable: „The Century of Deception“. The Birth of the Hoax in Eighteenth Century England. ‎The Westbourne Press, London 2021. 305 S., geb., 28,99 €.

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