Götz Aly: Warum die Deutschen? Warum die Juden? : Ein Historiker im Kampf gegen den Egalitarismus
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Einst sagte Heiner Geißler, der Pazifismus habe Auschwitz erst möglich gemacht. Jetzt reicht Götz Aly in seinem neuen Buch „Warum die Deutschen? Warum die Juden?“ den Schwarzen Peter an die SPD weiter.
Die Deutschen, die die Entrechtung, Beraubung und Ermordung der Juden geschehen ließen, pflegten hinterher zu sagen, 1933 habe sich niemand vorstellen können, was die Regierung Hitler dann in die Tat umgesetzt habe. Heute ist die Redewendung gängig, das Geschehene übersteige auch das Vorstellungsvermögen rückblickender Betrachter. Merkwürdigerweise wurde die Formel von der Unerklärbarkeit des Judenmordes zur Abwehr apologetischer Tendenzen in die wissenschaftliche Welt gesetzt. Aber das Zerreißen der Kausalketten zerstört den politischen Handlungszusammenhang. Von Schuld und Verantwortung kann dann nur noch in einem metaphysischen Sinne die Rede sein. Die Arbeit des Historikers Götz Aly beginnt mit der Kritik solcher Mystifikationen.
Aly sucht Erklärungen dafür, dass der deutsche Staat sich dem Zweck der Ausrottung des jüdischen Volkes verschrieb. Und er findet sie. Es sind prosaische, unerfreulich handfeste Erklärungen. Aly bringt die Sprache auf die Interessen. Wer hatte etwas davon, dass jüdische Fabrikbesitzer enteignet und jüdische Professoren von ihren Lehrstühlen vertrieben wurden? Die Frage stellen heißt sie beantworten. Man kann sich eben nur zu gut vorstellen, dass hinter jedem verdrängten Juden ein Konkurrent bereitstand, um den freien Platz einzunehmen. Sofern der unverdiente Vorteil das Gewissen des Profiteurs beschäftigte, mochte der eine sich beruhigen, indem er den unglücklichen Vorbesitzer oder Vorgänger mit übermäßiger Freundlichkeit behandelte - und ein anderer mochte sich einreden, der Jude habe ungerechterweise auf der Stelle oder dem Geld gesessen. In seinem neuen Buch untersucht Aly die psychischen Dispositionen einer Täterschaft der Mitnahmeeffekte und der Mitleidsverkümmerung. Was befähigte die Deutschen, skrupellos zuzugreifen und ungerührt zuzusehen?
Die Publizistik hatte sich den antisemitischen Staat bereits ausgemalt
Nebenbei führt Aly den Beweis, dass die Umsetzung des antijüdischen Programms der NSDAP vor dem Horizont der Zeitgenossen keineswegs unvorstellbar war. Denn schon Jahre vor 1933 hatte eine Publizistik, die man prophetische Geschichtsschreibung nennen möchte, den antisemitischen Staat, den Hitler errichtete, in fast allen Einzelheiten ausgemalt. 1922 erschien in Wien der Roman „Die Stadt ohne Juden“ von Hugo Bettauer. Hier lässt der in der Wirtschaftskrise ins Kanzleramt getragene „geistvolle Führer“ und „Befreier Österreichs“ namens Dr. Karl Schwertfeger ein „Gesetz zur Ausweisung aller Nichtarier aus Österreich“ verabschieden.
Das Modehaus Zwieback in der Kärntner Straße geht ins Eigentum des vormaligen ersten Verkäufers in der Damenabteilung über, dem die „Mittelbank deutscher Sparkassen“ den erforderlichen Kredit gewährt. Die Bühnen müssen auf die unwitzigen Stücke nichtjüdischer Autoren zurückgreifen, die „jahrelang in den Schubladen geschlummert“ haben. Auch in der „sozialdemokratisch organisierten Arbeiterschaft“ ist wegen der plötzlichen Behebung der Wohnungsnot „die Befriedigung über den Fortzug der Juden groß“. Gleichwohl ordnet der Kanzler an, dass die „Abfahrt der Züge tunlichst nur zur Nachtzeit“ zu erfolgen habe, und zwar von „den außerhalb gelegenen Rangierbahnhöfen“. Und so geschah es, als Hitler Österreich mit Deutschland vereinigte. Aly resümiert: „Um das Gewissen der Wiener zu schonen, fuhren die Deportationszüge nächtens von der Postrampe des abseits gelegenen Aspangbahnhofs ab. Insgesamt mussten auf diesem Weg 48 593 Menschen Wien verlassen. Von ihnen überlebten 2098.“
Eine moralische Empirie der Eindrücke und Gefühle