: Goethe - ein Unmensch?
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"Goethe unterzeichnet das Todesurteil einer Kindsmörderin und empfiehlt die Exekution." In Goethes Sündenregister nimmt sich ein solcher Satz besonders schlagkräftig aus, unwiderlegbar in seiner schneidenden Kürze. Diese hat Methode, soll sie doch vernichten, rasch und ohne Einspruch. Hans Mayer, ...
"Goethe unterzeichnet das Todesurteil einer Kindsmörderin und empfiehlt die Exekution." In Goethes Sündenregister nimmt sich ein solcher Satz besonders schlagkräftig aus, unwiderlegbar in seiner schneidenden Kürze. Diese hat Methode, soll sie doch vernichten, rasch und ohne Einspruch. Hans Mayer, von dem der kurze Satz stammt, griff (ohne sie zu nennen) auf eine Diskussion der Jahre um 1930 zurück. Sie war auf die Kurzformel "Auch ich" zugelaufen. "Auch ich" - so stand es, ausgegeben als exakte schriftliche Äußerung Goethes, in einer Anmerkung von Friedrich Wilhelm Luchts Abhandlung über das Strafrecht in Sachsen-Weimar unter Carl August, die sich auf die Voten der Geheimen Räte zum Problem der Bestrafung von Kindsmörderinnen bezog.
In der Folge prangerte Karl Maria Finkelnburg im Berliner Tageblatt Goethes Unmenschlichkeit an: "Die Hand, die die wundervolle Kerkerszene im Faust, eine der erschütterndsten Szenen der Weltliteratur, geschrieben hat, setzte - die Originalakten sind noch vorhanden - als Zustimmung zu den beiden auf Todesstrafe lautenden Voten nur die Worte hinzu: ,Auch ich.' Nichts weiter. Formelhaft." Goethe, so heißt es dann feinsinnig, war also "Anhänger von Hinrichtungen". Mit Verzweiflung geradezu registrierte Thomas Mann das ominöse "Auch ich", es kam ihm "in seiner Art ebenso erschütternd" vor "wie der ganze Faust". Daß es zumindest die Kurzformel "Auch ich" gar nicht gab - die Originalakten enthalten sie nicht -, änderte wenig an der Karriere des Vorwurfs. Offenbar bestand in diesen Jahren ein dringendes Bedürfnis, Goethe moralisch zu liquidieren - Mathilde Ludendorffs Märchen von der Mitschuld Goethes an der Ermordung Schillers schlug in die gleiche Kerbe. Es gab eine Form des "Mißwollens" (Goethes Prägung), die im Falle Goethes alles für möglich hielt, auch Mord und Totschlag.
Nun ist die Sache wieder da. Sigrid Damm machte mit "Christiane und Goethe" den Anfang. Sie nahm Akteneinsicht im Thüringischen Staatsarchiv und behandelte den Fall der Kindsmörderin Johanna Catharina Höhn. Diese war im November 1783 öffentlich enthauptet worden, nachdem das Geheime Consilium, also auch Goethe, zum Problem der Todesstrafe befragt worden war. Jetzt rückte der Satz "daß auch nach meiner Meinung räthlicher seyn mögte die Todtesstrafe beyzubehalten" in die Mitte der Empörung. Damm wußte ihm sogar eine Wendung zu geben, die das alte "Auch ich" noch übertraf. Goethe war nicht nur ein Mit-, sondern der Hauptschuldige an der Hinrichtung, bildete sein Votum doch in dem vermeintlich gespaltenen Gremium das "Zünglein an der Waage". Bleibt freilich die Frage, was denn, um alles in der Welt, Goethe dazu bewogen hat, sich sogar den Wünschen seines Herzogs entgegenzustellen? Dafür hat Damm eine enttäuschend kleinliche Antwort parat: Zerstreuung, Schlendrian, Lässigkeit. Schlampigkeit in einer solchen Sache, und das bei Goethe, dessen Gewissenhaftigkeit bekannt war?
Nahezu gleichzeitig haben nun einerseits der Freiburger Germanist Rüdiger Scholz und anderseits Volker Wahl, Direktor des Thüringischen Hauptstaatsarchivs Weimar, im Verein mit dem Juristen und Goetheforscher René Jacques Baerlocher kommentierte Editionen der Archivalien zum umstrittenen Komplex vorgelegt. Obwohl sie zum Teil die gleichen Dokumente bieten, könnten sie doch unterschiedlicher nicht sein.