Das Selbstbild des Westens : Ist denn der Westen für alle Übel dieser Welt verantwortlich?
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Einstmals ziemlich gute Freunde: Präsident Wladimir Putin empfängt Außenminister Frank-Walter Steinmeier 2016 im Kreml. Bild: Imago
Narzissmus und Selbsthass: Ob Arabischer Frühling oder Afghanistan, immer wieder scheitert der demokratische Aufbruch an lokalen Traditionen. Die Ethnologin Susanne Schröter plädiert für einen realpolitischen Kurswechsel.
Seit dem Rückzug aus Afghanistan und dem Ukrainekrieg hat sich zur Gewissheit verdichtet, dass die westliche Politik seit dem Fall der Mauer auf falschen Annahmen fußte. Der Glaube an die Exportierbarkeit der Demokratie vernachlässigte den Eigensinn von Kulturen und Traditionen, in denen die individuelle Freiheit kein großes Ansehen genießt und sich keine Zivilgesellschaft herausgebildet hat, auf denen eine Demokratie aufbauen könnte. Vom Arabischen Frühling über Afghanistan bis Mali zeigte sich immer dasselbe Bild: der demokratische Aufbruch zerschellte an lokalen Traditionen, seien es die staatsfernen Stammesgesellschaften in Afghanistan oder der weithin akzeptierte politische Nepotismus in Mali. Militärische Interventionen wie im Irak hinterließen ein Scherbenfeld und einen Nährboden für autokratische Regime und den Dschihadismus.
Für die Ethnologin und Islamforscherin Susanne Schröter ist das politische Scheitern eine Folge von Hybris und Selbsthass. Man stellte sich andere Länder und Regionen nach dem eigenen Bild als gelehrige Schüler vor, die im Prinzip die gleichen Werte teilen und durch Dialog und Handel dazu gebracht werden könnten, sie endlich politisch zu verwirklichen. Zugleich desavouierte man diese Werte im Inneren durch eine Identitätspolitik, die in grandioser Einseitigkeit und auf dünnster empirischer Grundlage ein Zerrbild des Westens zeichnet, der für alle Übel dieser Welt verantwortlich gemacht wird.
Es ist eine Ironie der Geschichte, dass nun ausgerechnet eine Partei die realpolitische Wende herbeiführen muss, die tief in diesen Irrweg verstrickt ist. In ihrer konzisen Rekapitulation des Ukrainekriegs zeichnet Schröter ein verheerendes Bild insbesondere von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der sich mit dem russischen Präsidenten noch solidarisierte, als dessen zerstörerische Ambitionen offensichtlich waren. Den russischen Präsidenten Putin stellte man unter Welpenschutz und gab ihm sehenden Auges die energiepolitische Waffe an die Hand, mit der er Europa heute in die Abhängigkeit anderer Autokratien treibt. Schröter verschweigt den breiten parteipolitischen und intellektuellen Flankenschutz nicht, auf den Steinmeier sich dabei verlassen konnte.
Die Verklärung des Fremden in der Identitätspolitik
An die ausgerufene Zeitenwende glaubt sie nicht. Im Gegenteil: Im Inneren nähre man weiter die Übel, die man außenpolitisch bekämpft. Der Clou von Schröters weitem Bogenschlag besteht in der Konsequenz, mit der sie geopolitische Ereignisse mit intellektuellen Strömungen und ihren innenpolitischen Reflexen ins Verhältnis setzt und daraus die Widersprüche hervortreibt, die für das Scheitern verantwortlich sind. Der überwölbende Widerspruch liegt für sie darin, dass sich der Westen an Gerechtigkeitsmaßstäben misst, die er anderen erspart. Dass er diesen Maßstäben oft nicht gerecht wird und Interessenspolitik moralisch verkleidet, wird von Schröter nicht übergangen. Trotzdem sei das Bild schief: Wer westlichen Imperialismus anklagt, dürfe über russischen oder chinesischen Imperialismus nicht schweigen. Wer mit dem transatlantischen Sklavenhandel ins Gericht geht, müsse ihn zum innerafrikanischen Sklavenhandel und jenem in muslimisch geprägten Ländern ins Verhältnis setzen, die ihm an Brutalität und Volumen nicht nachstehen.