: Geldgierig sind wir doch alle
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Von der Einsicht in die Vorläufigkeit wissenschaftlicher Erkenntnis ist ein Buch weit entfernt, das dem Leser die "Wahrheit" über die Alternative Medizin verspricht. Doch mit der Wahrheit ist das in der Medizin so eine Sache, auch wenn sich die Heilkunde seit 150 Jahren strikt an der Naturwissenschaft orientiert.Epistemologische ...
Von der Einsicht in die Vorläufigkeit wissenschaftlicher Erkenntnis ist ein Buch weit entfernt, das dem Leser die "Wahrheit" über die Alternative Medizin verspricht. Doch mit der Wahrheit ist das in der Medizin so eine Sache, auch wenn sich die Heilkunde seit 150 Jahren strikt an der Naturwissenschaft orientiert.
Epistemologische Probleme kennt das Autorengespann offenkundig nicht. Wissenschaftlichkeit garantiert angeblich nur die evidenzbasierte Medizin, wobei fast ausschließlich die höchste Evidenzstufe, die randomisierte Doppelblindstudie (RCT), als "Goldstandard" herangezogen wird. Wenngleich in solchen klinischen Studien große Bemühungen zur Vermeidung systematischer Verzerrungen des Vergleichs von Prüf- und Kontrollgruppe unternommen werden, heißt das aber nicht, dass RCTs ein objektives Bild der therapeutischen Realität ergeben: Der Einsatz von RCTs begünstigt bekanntlich bestimmte Therapien und benachteiligt andere. Außerdem sind deren Ergebnisse nur eingeschränkt auf die Praxis übertragbar. Solche Einwände stören weder den Mediziner Edzard Ernst, der schon an vielen "kritischen" Ratgebern zur Alternativen Medizin als Berater oder Autor beteiligt war, noch den Wissenschaftsjournalisten Simon Singh, der bereits früher in englischen Medien so manche Breitseite auf komplementärmedizinische Verfahren, unter anderem auf die Chiropraktik, abgefeuert hat.
Auffällig ist die Ignoranz gegenüber methodischen und sachlichen Einwänden, die führende Forscher auf dem Gebiet der Komplementärmedizin gegen den selektiven Blick dieser beiden "Experten" haben. Konträre Ansichten werden nicht erwähnt. Um ein Beispiel zu nennen: So nutzt die echte Akupunktur angeblich nur den Placebo-Effekt. Dagegen haben schon 2005 Lewith/Pariente/White nachgewiesen, dass bei der Scheinakupunktur, die mit Teleskopnadeln täuschend echt durchgeführt wird, andere Gehirnareale aktiviert werden als bei der üblichen Nadelsetzung.
Ignoriert wird von den Autoren auch ein detaillierter Health Technology Assessment-Bericht zur Homöopathie im Rahmen des Schweizer Programms Evaluation Komplementärmedizin aus dem Jahre 2006. Dieser kommt zu dem Schluss, dass "es ausreichend Belege für eine präklinische Wirkung und eine klinische Wirksamkeit der Homöopathie (Evidenzgrad I und II) gibt und dass sie absolut und insbesondere im Vergleich zu konventionellen Therapien eine sichere und kostengünstige Intervention darstellt."
Wenn ihre Art der wissenschaftlichen Beweisführung den Autoren nicht ausreichend erscheint, um eine Therapie als Quacksalberei zu "entlarven", dann müssen andere Totschlagargumente herhalten. So werden Risiken ausgemalt, die inzwischen längst von der Forschung relativiert sind, wie etwa bei der Chiropraktik. Die Frage, welche Risiken nach RCT-Kontrolle zugelassene Arzneimittel haben, wird zudem erst gar nicht gestellt. Oder man wirft den Vertretern der Alternativen Medizin vor, geldgierig zu sein - als ob es in der konventionellen Medizin nicht ebenfalls derartige Neigungen gäbe!
ROBERT JÜTTE
Simon Singh, Edzard Ernst: "Gesund ohne Pillen". Was kann die Alternativmedizin? Aus dem Englischen von Klaus Fritz. Carl Hanser Verlag, München 2009. 398 S., geb., 21,50 [Euro].