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Das Leid an Europas Grenzen : Im Niemandsland der geschlossenen Türen

  • -Aktualisiert am

Verschärfte Maßnahmen: Der Zaun entlang der griechisch-türkischen Grenze am Evros soll auf knapp siebzig Kilometer ausgebaut werden. Bild: AFP

Erst wurden sie in Lagern zur Schau gestellt, dann versteckt und vergessen. Jetzt gibt Franziska Grillmeier Geflüchteten an den Grenzen Europas eine Stimme.

          3 Min.

          „Keine weiteren Morias“, versprach die EU-Innenkommissarin Ylva Johansson im Europaparlament, nachdem das Flüchtlingslager auf der griechischen Insel Lesbos im September 2020 in Flammen gestanden hatte. Dabei war Moria bloß die Fratze eines Problems, das an den Grenzen Europas viele Gestalten annimmt. Auch heute noch, zweieinhalb Jahre nach dem Brand, der angesichts der Häufung von Katastrophenmeldungen in eine gedankliche Vorzeit gerückt zu sein scheint.

          Bis jetzt. Wer Franziska Grillmeiers Buch „Die Insel“ liest, wird sich den Bildern von der Gewalt an der Peripherie unserer Wohlstandsgesellschaft kaum entziehen können. Im Herbst 2017 reiste die Journalistin erstmals nach Lesbos, ein Jahr später sollte die Insel ihr Zuhause werden. Seitdem berichtet sie von einem Ort, an dem „der Ausnahmezustand zum Normalzustand“ wurde.

          Das Feuer in Moria, der Bau von Hochsicherheitslagern mit dem widersinnigen Namen „Closed Controlled Access Centre“, die Kriminalisierung Geflüchteter als mutmaßliche Schlepper, illegale Pushbacks auf See und an Land: Ihre Anklage der europäischen Staatengemeinschaft wie der griechischen Regierung wiegt, so wenig sie überrascht, schwer. Die Geflüchteten in Moria würden zunächst zur Schau gestellt und dann versteckt. „In ein Flüchtlingslager eingewiesen zu werden heißt“, zitiert sie den Soziologen Zygmunt Bauman, „aus der Welt und der Menschheit ausgewiesen zu werden.“

          Eine Chronik der Eskalation

          Grillmeier macht die Ausgeschlossenen zu Chronisten ihrer eigenen Geschichten. Knapp vier Jahre lang besucht die Reporterin regelmäßig Moria und seine Äquivalente und hört zu. Ma­leka Mahmoodi zum Beispiel, die sich als Hochschwangere im Lager Mavrovouni auf Lesbos selbst anzündete, um das eigene Leben zu beenden, und dafür wegen Brandstiftung angeklagt wurde. Oder Pasqualine M., deren Schilderungen von Pushbacks auf dem Meer als einzige im Buch als Transkript abgedruckt sind. Verfolgt man Grillmeiers Reportagen, hat man ihren Doku-Podcast „Memento Moria“ gehört, kennt man beide Frauen und ihre Geschichten bereits. Eine Vielzahl der Schicksale lösten in den vergangenen Jahren großes mediales Echo aus. Miteinander verknüpft, bilden sie eine Chronik der Eskalation in vier Kapiteln.

          Franziska Grillmeier: „Die Insel“. Ein Bericht vom Ausnahmezustand an den Rändern Europas.
          Franziska Grillmeier: „Die Insel“. Ein Bericht vom Ausnahmezustand an den Rändern Europas. : Bild: C.H. Beck Verlag

          Dreh- und Angelpunkt ist dabei die Kluft, die zwischen Geflüchteten und Europäern mit jeder Verschlechterung der Zustände an den Grenzen, dem „Niemandsland der geschlossenen Türen“, ein Stück weiter auseinandergeht. Bei der Insel, die Grillmeier im Kern in den Blick nimmt, handelt es sich daher im weitesten Sinne nicht bloß um Lesbos oder vergleichbar isolierte Grenzorte auf See wie an Land. „Die Insel“ funktioniert genauso als Metapher für Europa selbst: Abgeschottet durch Wasser, durch Zäune, durch Überwachungstechnik, durch Grenzpolizisten und inoffizielle, maskierte Einheiten: „Von den Grenzen aus betrachtet, erscheint das Zentrum in neuem Licht, hier kann nichts überpinselt werden.“

          Ohne didaktischen Vorschlaghammer inszeniert sie das nicht selten im Raum zwischen den Zeilen. Etwa wenn sie berichtet, wie sich Urlauber in Radiosendungen zu Beginn der Pandemie trotz der staatlichen „Aktion Luftbrücke“ in „absoluter Unsicherheit“ wähnen, während Moria abgeriegelt wird. Anlässlich der europäischen Initiative zu Beginn des Ukrainekriegs im vergangenen Jahr findet sie klarere Worte: „In diesem Moment prallten zwei Welten von schutzsuchenden Menschen aufeinander – jene, die keine sicheren Fluchtwege haben und deren gewalttätige Misshandlung durch europäische Grenzschützer:innen meist folgenlos blieb, und jene, die in ihrem Schutzgesuch in Europa empfangen werden, wie es im internationalen und europäischen Recht verankert ist.“

          Ebenso kontrovers dürfte ihr Seitenhieb gegen eine Medienlandschaft sein, die sich im Skandal um die Gruppe „Evros 38“ vor allem am journalistischen Handwerk abarbeitete. Der „Spiegel“ hatte den mutmaßlichen Tod eines Mädchens am gleichnamigen türkisch-griechischen Grenzfluss ohne gründliche Recherche als Tatsache referiert, konnte diesen jedoch nicht belegen, als der Minister für Migration und Asyl, Notis Mitarakis, die Existenz des Mädchens mit guten Gründen anzweifelte.

          Grillmeiers Bericht lässt keinen Zweifel daran, dass es unabhängige Beobachter braucht – an den Grenzen und in den Lagern, die in der Tradition Morias stehen. Es ist ihr unbestechlicher Blick auf „noch rote Tomaten, die wie zerplatzte Luftballons in sich zusammengefallen waren“, als letzte Zeugnisse des Lebens im abgebrannten Moria, der das Ausmaß zerplatzter Träume greifbar macht.

          Franziska Grillmeier: „Die Insel“. Ein Bericht vom Ausnahmezustand an den Rändern Europas. C.H. Beck Verlag, München 2023. 256 S., Abb., geb., 24,– €.

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