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Bilder in sozialen Medien : Wir sind alle Touristen des Alltäglichen

  • -Aktualisiert am

Instagram-Installation: Von Besuchern der Ausstellung „Museum of Me“ in Rio de Janeiro gepostete Bilder Bild: AFP

Zirkulieren ist alles: André Gunthert und Nathan Jurgenson machen sich Gedanken über das Fotografieren in Zeiten von sozialen Medien wie Instagram und Facebook.

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          Als Martin Heidegger im Frühjahr 1962 zum ersten Mal die Tempelruinen von Delos besuchte, mischte sich in die Begeisterung über den Aufenthalt im Land der Griechen auch Ernüchterung angesichts der unübersehbaren Zeichen der Gegenwart. „Überall photographierende Leute“, notiert Heidegger ins Reisejournal. „Sie werfen ihr Gedächtnis weg in das technisch hergestellte Bild. Sie verzichten ahnungslos auf das ungekannte Fest des Denkens.“ Wenige Jahre zuvor hatte auch Günther Anders seinen Unmut über die Unfähigkeit zum unmittelbaren Erleben am Beispiel der fotografierenden Touristen formuliert. „Wirklich“ sei für diese nicht das in der Fremde Gesehene, sondern einzig dessen fotografisches Abbild – das zum „Eigentum gewordene Exemplar der Reproduktions-Serie“.

          Gemessen an der heutigen Praxis digitaler Bildproduktion wirkt die von Heidegger und Anders kritisierte Bildpraxis geradezu archaisch. Erst Tage nach der Rückkehr war daran zu denken, die im Labor entwickelten Urlaubsfotos in Augenschein zu nehmen, danach verblieben sie als Papierabzüge im privaten Fotoalbum. Vor allem aber hatte der Apparat, der die Bilder hervorbrachte, nur diese eine, spezifische Funktion des Bildermachens, während das heutige Fotografieren mit dem Smartphone das digitale Foto von Anfang an in den größeren Zusammenhang der elektronischen Kommunikation einspeist.

          André Gunthert: „Das geteilte Bild“.
          André Gunthert: „Das geteilte Bild“. : Bild: Konstanz University Press

          Zwei Neuerscheinungen fragen danach, wie diese medialen Veränderungen Bedeutung und Funktion des fotografischen Bildes verändert haben. Die eine stammt von dem französischen Kulturhistoriker André Gunthert, einem genauen Kenner der Fotografiegeschichte und Mitbegründer der renommierten Zeitschrift „Études photographiques“. Zu Recht erinnert Gunthert daran, dass das vielfach prophezeite Ende der Fotografie als Dokument und Zeugnis bis heute ausgeblieben ist. „Wenngleich alle unsere Bilder inzwischen aus Pixeln zusammengesetzt sind, hören wir dennoch nicht auf, unsere Zeitungen aufzuschlagen, unsere Fernseher einzuschalten und den Informationen, die sie liefern, Vertrauen zu schenken.“ Möglichkeiten der Manipulation gab es auch vor der Digitalisierung schon, zudem sind sie kein exklusives Merkmal der Bilder: auch mit den Mitteln der Sprache lässt sich bekanntlich vortrefflich lügen.

          Die radikalen Umbrüche der Digitalisierung sieht Gunthert hingegen in den ungeahnten Möglichkeiten ihrer öffentlichen Zirkulation. Das Mobiltelefon „verwandelt jeden von uns in einen Touristen des Alltäglichen“. Auf dieser Grundlage formuliert Gunthert eine Reihe interessanter Beobachtungen, etwa zur Verbreitung von Nachrichtenbildern durch Amateure, die an den Schauplätzen politischer Ereignisse mit ihren Smartphones meist schon präsent sind, bevor die professionellen Fotografen eintreffen. Gunthert schlägt vor, die Zirkulation der Amateurbilder in den sozialen Netzwerken nicht als Krise, sondern als Möglichkeit zur Diversifizierung der klassischen Bildberichterstattung zu begreifen. Im Verlauf der Lektüre stellen sich allerdings auch Irritationen ein. Sie haben vor allem damit zu tun, dass es sich um eine Sammlung von Aufsätzen aus den Jahren 2004 bis 2015 handelt. Ihr identischer Wiederabdruck dokumentiert das rasche Altern der Texte: Wer wie Gunthert an der vordersten Front der medialen Entwicklung schreiben will, muss mit diesem schnellen Veralten seiner Beschreibungen rechnen. Das neueste Mobiltelefon aus dem Jahr 2007 wirkt heute so historisch wie ein Herren-Klappzylinder. Tatsächlich teilen technologische Innovationen das Schicksal des Veraltens mit den Erscheinungsweisen der Mode. „Als Mode“, so Niklas Luhmann, „kann man viel wagen, weil man nicht auf Dauer spekulieren muss.“

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