Deutsche Raststätten : Die Toiletten sind picobello
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An diesem wenig einladenden Ort werden Alfred Biolek zufolge die besten Süßspeisen überhaupt serviert: Garbsen Nord an der Bundesautobahn 2 bei Hannover Bild: Christian Werner
Futurlandschaft mit schlechtem Ruf: Florian Werner hat sich auf einer Raststätte einquartiert und umgeschaut. Seine Eindrücke widerlegen das Vorurteil vom öden Ort am Rand der Autobahn.
Wer sich über unsere ökologische Zukunft informieren will, kann Fachliteratur konsultieren oder das Internet befragen. Weniger naheliegend, dafür aber umso anschaulicher ist es, eine Raststätte aufzusuchen. Als gutes Feldforschungsterrain erweist sich Garbsen Nord an der A2 bei Hannover. Zweihundertsechzig Pflanzenarten wachsen in fünf Biotoptypen auf dem Gelände der 1954 eröffneten Anlage, darunter etwa der Mäuseschwanz-Federschwingel und das Gewöhnliche Hirtentäschelkraut. Inzwischen gedeihen ein Drittel mehr Spezies auf dem Rasthof als vor vierzig Jahren, wobei sich deren Zusammensetzung immer wieder ändert. Der Klimawandel macht es wärmeliebenden Gewächsen leicht, sich auszubreiten, während alles, was viel Feuchtigkeit braucht, kaum Überlebenschancen hat.
Jürgen Feder, Diplom-Ingenieur für Landespflege, Flora und Vegetationskunde, sagt: „Unsere Kulturgräser werden alle eingehen. Dann kriegen wir ein Grünland wie auf Mallorca. Mit unserer Massentierhaltung ist es dann zu Ende.“ So wie auf Rastplätzen, die sich wegen des stark versiegelten Bodens besonders stark aufheizen, könnte es in zwanzig bis dreißig Jahren überall in Deutschland aussehen. Insofern handelt es sich bei ihnen um „Futurlandschaften“.
Im konsumistischen Teufelskreis
Feder gehört zu einer Handvoll Menschen, mit denen sich Florian Werner für sein Buch über Raststätten getroffen hat. Ob Polizist, Flaschensammler oder Trucker: Jeder von ihnen hat einen anderen Zugang zu diesen seltsamen, oft schlecht beleumundeten Orten, die meistens nur von der Autobahn aus erreichbar sind, als Durchgangsstation dienen und uns an eine einfache Wahrheit erinnern, die für viele Reisen gilt: „Das Ziel ist das Ziel. Der Weg ist im Weg.“ Da sich kein Trip ohne „Naturhindernisse“ (Karl Marx) wie Harndrang oder Hunger bewältigen lässt, machen hierzulande jedes Jahr mehr als eine halbe Milliarde Menschen halt an den rund vierhundertdreißig bewirtschafteten Raststätten.
Garbsen Nord ist Werner zufolge ein Ort von „hinreißender Durchschnittlichkeit, ein Traum in Nullachtfünfzehn, asphaltgewordene Normalität“ – und deshalb ideal, um manches über Kultur und Mentalität der Deutschen zu lernen. Der Autor checkt im Motel des Rasthofs ein, staunt über einen Münzfernsprecher der Telekom (Einwurf: fünfzehn Cent), betrachtet die im Fischgrätmuster aufgereihten Vierzigtonner auf dem Parkplatz und fragt sich, warum die Schilder so anachronistisch sind: Das Piktogramm für Lastwagen etwa zeigt ein Modell mit Plane und Pritsche. Der Besuch der Sanifair-Toilette – nichts zu beanstanden, alles „picobello“ – animiert ihn zu philosophisch unauffälligen Überlegungen. So erhält der Notdürftige vorm Betreten der sanitären Anlage einen Wertbon, den er im Gastronomiebereich einlösen kann. Das komme einem „konsumistischen Teufelskreis“ gleich: „Er hat sich noch nicht entleert und soll sich schon wieder auffüllen.“