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Erziehungsratgeber : Was, Ihr Kind kann noch nicht krabbeln?

Schwimmt das andere Kind etwa schneller?

Schwimmt das andere Kind etwa schneller? Bild: ASSOCIATED PRESS

Wenn das Baby in die Jahre kommt: Das Standardwerk des Schweizer Kinderarztes Remo H. Largo ist in jedem Familienhaushalt unentbehrlich. Vehement rät Largo vor allem von einem ab: Kinder zu vergleichen.

          3 Min.

          Von Geburt an werden Säuglinge von ihren Müttern oft mit großer Sorge beäugt. Dreht er sich schon? Warum robbt sie so komisch? Weshalb kann er noch immer nicht lachen? Allein die unglaubliche Fülle an Ratgeberliteratur zu Kindheit und Erziehung - 13.215 Einträge verzeichnet der Online-Buchhändler „Amazon“ - verrät die zunehmende Verunsicherung.

          Sandra Kegel
          Verantwortliche Redakteurin für das Feuilleton.

          Vor dieser Informationsflut können Mütter leicht kapitulieren - oder sich zutiefst verunsichern lassen. Denn die Angst, bei den heutigen Anforderungen an die „Managerin eines erfolgreichen Kleinunternehmens“ als schlechte Mutter zu gelten, ist groß. Und anstatt sich gegenseitig zu helfen, quälen die von durchwachten Nächten ohnehin erschöpften Mütter sich oft noch gegenseitig: „Was? Ihr Kind kann noch nicht krabbeln?“ lauten zum Beispiel die vermeintlich besorgten Fragen, die bei Müttern alle Alarmglocken schrillen lassen.

          Durchdachter Aufbau

          Um für solche Situationen gewappnet zu sein, sollten Eltern gelegentlich zu Remo H. Largos Buch „Babyjahre“ greifen. Das Standardwerk des Schweizer Kinderarztes, das sich seit seiner Erstausgabe 1993 mehr als vierhunderttausendmal verkauft hat, in viele Sprachen übersetzt und gerade in einer überarbeiteten Ausgabe herausgegeben wurde, ist ohnehin in jedem Familienhaushalt unentbehrlich. Remo Largo spricht auf knapp sechshundert Seiten nicht nur nahezu alle Fragen an, die das soziale Arrangement der Eltern-Kind-Beziehung aufwirft. Der emeritierte Professor für Kinderheilkunde am Zürcher Kinderspital unterscheidet sich vor allem durch die Qualität seiner Argumente von der übrigen Literatur. Der durchdachte Aufbau des Buches erleichtert zudem das Querlesen und die gezielte Suche von Themen.

          Anders als manche Publikationen, die Eltern gerne vorschreiben, was genau sie zu tun haben, damit das Kind nachts durchschläft, sich artig benimmt, mittags isst und möglichst später Nobelpreisträger wird, pocht Largo darauf, dass eben jedes Kind anders ist. Viele Schwierigkeiten im Umgang mit Kindern erwachsen seiner Ansicht nach allein daraus, dass wir uns auf diese Vielfalt nicht wirklich einstellen. „Erziehung ist die ganz normale Katastrophe“, meint der Kinderarzt. Stets käme es zu Konflikten, ohne diese könnten Kinder gar nicht groß werden. Deshalb will Largo die Eltern von ihrem Schuldgefühl befreien, wenn etwa das Kind einmal nicht schläft, nicht isst oder lauthals schreit. Sein Credo von der Vielfalt der kindlichen Entwicklung entlastet die Eltern von der drückenden Angst, dass mit ihrem Kind etwas nicht stimmt, weil es sich nicht genauso schnell wie die Nachbarstochter entwickelt. Largos wissenschaftliche Fundamente sind vor allem die „Longitudinalstudien“ der Zürcher Universität, für die er bei mehr als siebenhundert Kindern die Entwicklung von Geburt bis ins Erwachsenenalter beobachtet und aufgezeichnet hat.

          Nur nicht vergleichen

          Vehement rät Largo davon ab, Kinder zu vergleichen: So stimme es beispielsweise nicht, dass sich alle Kinder zwischen fünf und sieben Monaten vom Bauch auf den Rücken drehten. Gleichwohl würden Kinder, bei denen dies anders verläuft - für Largo eine völlig normale Entwicklung -, oft physiotherapeutisch behandelt. Auch von Verwandten, Bekannten und aus den Medien übernähmen Eltern Normvorstellungen, die falsche Erwartungen weckten und Eltern verunsicherten: Da höre man, dass ein Kind mit drei Monaten durchschläft, mit einem Jahr die ersten Schritte macht und mit zwei Jahren spricht. „Solche Vorstellungen entsprechen den Kindern aber nur ausnahmsweise“, hält Largo entgegen. Dem Förderwahn in Familie und Schule kann Largo deshalb nichts abgewinnen: „Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht“, zitiert er ein afrikanisches Sprichwort.

          Für die Neuausgabe der „Babyjahre“ hat der Kinderarzt einiges verändert. So geht er auf Fragen ein, die Eltern heute stärker beschäftigen als noch in den neunziger Jahren, etwa die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, die Rolle des Vaters oder die Frage nach der Kinderbetreuung. Außerdem hat der Autor den Altersbereich der Kinder von zwei auf vier Jahre angehoben. Die Neuauflage schmücken, anders als den Vorgänger, Farbfotos. Der formale Aufbau des Buches wurde indes zu Recht beibehalten. Denn die verschiedenen Kapitel „Motorik“, „Schlafverhalten“, „Schreiverhalten“ oder „Wachstum“ sind in sich wiederum nach Kindesalter unterteilt, was es den Eltern erleichtert, einzelne Aspekte nachzulesen. Hilfreich ist auch die Rubrik „Das Wichtigste in Kürze“, die jedes Kapitel beschließt - und sich insbesondere für den akuten Fall, etwa einer Schreiattacke, eignet.

          In „Babyjahre“ wie auch in seinen Büchern „Kinderjahre“ und „Glückliche Scheidungskinder“ scheut sich der Anwalt der Kinder nicht, aus konkreten Beispielen allgemeingültige Schlüsse zu ziehen. Wie kaum ein anderer ergreift Largo dabei stets Partei für die Kinder. Er argumentiert überzeugend, warum es zum Beispiel nicht schädlich sei, wenn Kinder nachts ins Bett der Eltern krabbelten. Auch sieht er keinen Sinn darin, Säuglinge schreien zu lassen - das sei „quälend und sinnlos“ und es gäbe „keinerlei Hinweise, dass Kinder eher durchschlafen, wenn sie schreien“. Largos oberstes Gebot der Erziehung lautet: „Du sollst auf der Seite des Kindes stehen.“ Einfach ist das freilich nicht immer.

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