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Entstehung der Schrift : Unser Alphabet ist alles andere als selbstverständlich

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Wer das aufdröseln könnte: Der Diskos von Phaistos, eine Scheibe aus gebranntem Ton, gefunden 1908 auf Kreta und auf etwa 1600 v. Chr. datiert Bild: Picture-Alliance

Vom Bild zur Silbe zum Alphabet: Silvia Ferrara lädt zu einer Reise durch archaische Schriftlandschaften und korrigiert dabei eine verbreitete Vorstellung von deren Entstehen.

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          Wir holen unser Smartphone heraus, rufen die Emojis auf und tippen auf das Reh. Und danach auf den Bus. Und dann lesen wir die Kombination laut vor. Mit dem Reh-Bus haben wir das Wort „Rebus“ geschrieben – und zwar durch einen Rebus. Der geistige Sprung von den Bildern zu den Lautfolgen der Wörter und von dort zur Nutzung ihrer Mehrdeutigkeiten war ein zündender Funke in der geistigen Entwicklung der Menschheit. Er machte aus Piktogrammen, die Dinge direkt abbilden, Zeichen, die für die gesprochenen Wörter oder Silben einer Sprache stehen – das Grundprinzip der Schrift, das an verschiedenen Orten der Welt unabhängig voneinander entdeckt wurde.

          Ihm folgen die ägyptischen Hieroglyphen ebenso wie die mittelamerikanische Mayaschrift oder die Schriften der minoischen und mykenischen Kultur. Ein Beispiel für seine Vitalität liefert die chinesische Schrift, die 3200 Jahre jung ist. Nicht immer ist der bildhafte Charakter der Zeichen in diesen Schriften auf Anhieb erkennbar. Im Laufe der Zeit wurden sie schematischer, abstrakter und mit Hilfsmarkierungen zur Herstellung lautlicher und grammatischer Eindeutigkeit verknüpft.

          Im Gegensatz zu den Silbenschriften ist das Alphabet, dessen Buchstaben für einzelne Laute stehen, eine kultur­geschichtlich späte Erscheinung. Das ist kein Zufall, folgt man der Schriftforscherin Silvia Ferrara, denn die Silbe, nicht der isolierte Laut bildet die Grundlage des Sprechens. Dass das Alphabet sich über die ganze Welt ­ausgebreitet hat, liegt an seiner Effizienz, aber dass es überhaupt entstand, ist für Ferrara keineswegs selbstverständlich. In ihrem ansprechend ge­stalteten Buch, das sich vor allem den frühen Stufen der Schriftgeschichte widmet, stehen die Silbenschriften im Vordergrund. Sie selbst ist Spezialistin für einen wichtigen Teil von ihnen, nämlich die archaischen Schriften des ägäischen Raums, von denen einige wie die kretische Linear A erst ansatzweise entziffert sind. Zudem leitet sie ein ­Forschungsprojekt an der Universität Bologna zur weltweiten Entstehung der Schriften.

          An missgünstigen Skeptikern fehlt es nie

          Ferrara liefert keine systematische Einführung, sondern die mit persönlichen Eindrücken durchwirkte Schilderung einer Reise durch die alten Schriftlandschaften der Welt vom vorklassischen Griechenland über Ägypten und Mesopotamien nach China, Mittelamerika, zu den Osterinseln und ins Industal. Auch einzelne Schriftschöpfer kommen ins Bild, wie Hildegard von Bingen, die ein Alphabet für ihre ebenfalls selbstgefertigte Lingua Ignota (Unbekannte Sprache) erfand, oder Sequoyah, ein Silberschmied aus Tennessee, der eine Silbenschrift für die Cherokee-Sprache schuf.

          Silvia Ferrara: „Die ­große Erfindung“. Eine Geschichte der Welt in neun geheimnisvollen Schriften.
          Silvia Ferrara: „Die ­große Erfindung“. Eine Geschichte der Welt in neun geheimnisvollen Schriften. : Bild: C.H. Beck Verlag

          Der subjektive, meinungsfreudige Stil der Autorin, die die Leser auch immer mal wieder direkt anredet, macht die Darstellung lebendig. Gelegentlich tut sie allerdings zu viel des Guten, schweift ab und verliert den roten Faden. Und nicht immer trennt Ferrara hinreichend zwischen ihren persönlichen Überzeugungen und dem im Fach anerkannten Forschungsstand. So zum Beispiel im Fall des Rongorongo, eines Zeichensystems, das auf den Osterinseln in Gebrauch war. Ferraras Behauptung, dass das Rongorongo eine Sprache wiedergebe, die mit dem heute auf der Insel gesprochenen polynesischen Dialekt verwandt sei, ist kein allgemeiner ­Konsens. Umstritten ist schon, ob es sich überhaupt um eine Schrift handelt. Doch die Zweifler sind für Ferrara „missgünstige Skeptiker, an denen es niemals fehlt“. In ihren fachlichen ­Publikationen äußert sie sich viel ­vorsichtiger.

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