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Douglas Coupland: Marshall McLuhan : Als die Massenkultur noch Einsichten versprach

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Bild: Verlag

Rückblick in die Zukunft des globalen Dorfs mit einem ihrer Propheten: Douglas Couplands spielerische Biographie Marshall McLuhans verbindet die wichtigsten Theorien und Episoden aus dem Leben des Medientheoretikers und Popstars.

          3 Min.

          Alles begann mit einem Niesen. Es ist der heftigste Niesanfall, den Douglas Coupland jemals hatte. Anschließend blickt der junge Autor in seine Hand und erschrickt: Er sieht einen kleinen Klumpen Gewebe. Seit diesem Tag im Dezember 1988 ist Couplands Gehör extrem empfindlich. Später erfährt er, dass ihn das mit einem berühmten Landsmann verbindet, mit dem Medientheoretiker Marshall McLuhan. In der bis dahin längsten neurochirurgischen Operation der Geschichte war dem Wissenschaftler ein Hirntumor entfernt worden. Die Folge war eine ungewöhnlich hohe Sensibilität gegenüber Geräuschen.

          Über diesen Leidensgenossen wollte Coupland mehr wissen. Dass im Laufe seiner intensiven Beschäftigung eine Biographie entstand, ist ein Glück. Die Auseinandersetzung mit McLuhans Leben ruft bei dem Romancier eine beinah zärtliche Bewunderung hervor. Obgleich zwischen den beiden Kanadiern ein halbes Jahrhundert liegt - als McLuhan 1980 stirbt, beginnt Coupland gerade sein Kunststudium in Vancouver -, scheint der Schriftsteller eine Art Seelenverwandtschaft zu spüren. Marshall McLuhan, der erste Theoretiker der postmodernen Massen- und Konsumkultur, trifft auf Douglas Coupland, einen ihrer profiliertesten Deuter.

          Tiefe Abneigung gegen die neue Medienwelt

          Der Verfasser von Romanen wie „Generation X“, „Microsklaven“ und „JPod“ erkennt in dem Professor einen Künstler, der mit Worten, Ideen und einer phänomenalen Rhetorik Großartiges erschuf. Er schildert, wie ein schüchterner Junge aus der kanadischen Prärie zum Propheten unseres Informationszeitalters wurde, der es aufs Cover des „Time“-Magazins schaffte, mit Millionären über die Ägäis segelte und für Vorträge bei IBM und AT&T ein Vermögen erhielt, das Internet voraussah und mit seiner These „The medium is the message“ und dem Schlagwort vom „Global Village“ zu einem Popstar der sechziger Jahre wurde. Auf der Suche nach Anhaltspunkten taucht Coupland tief in die Familiengeschichte der McLuhans ein: Welchen Einfluss hatte die Vortragskunst seiner strengen Mutter Elsie auf den jungen Marshall? Oder die Schwierigkeiten, in der endlosen Weite von Manitoba im frühen zwanzigsten Jahrhundert zu kommunizieren?

          Wie die Kommunikation zwischen Menschen, Generationen und Jahrhunderten gelingen kann, wurde schließlich zu McLuhans großem Thema. Bis dahin war es allerdings ein langer Weg. Anekdotenreich beschreibt Coupland, wie sich der Heranwachsende für Literatur, Geschichte und Theologie zu begeistern beginnt, schließlich Anglistik in Winnipeg studiert und an der Universität Cambridge den New Criticism kennenlernt. Dessen Methode des „close reading“ wendet McLuhan - zurück in Nordamerika - auf die Massenkultur an, indem er eine Vielzahl ihrer Manifestationen durch die kulturanalytische Brille betrachtet - darunter Kleidung, Autos, Geld, Waffen, Radio und insbesondere das neue Medium Fernsehen. Letzterem konnte er zwar nicht viel abgewinnen - Coupland betont McLuhans tiefe Abneigung gegen Entwicklungen der neuen Medienwelt -, aber dafür interessierte es ihn umso mehr.

          Ein Hippie-Idol mit reaktionären Ansichten

          Bereits in seinem ersten Hauptwerk „The Mechanical Bride: Folklore of Industrial Man“ von 1951 benutzte McLuhan ein mosaikartiges Darstellungsverfahren: Jedem Text stellte er Auszüge von Zeitungsartikeln oder Werbekampagnen voran, die er im Folgenden untersuchte. In seiner Biographie adaptiert Douglas Coupland diese Herangehensweise. Viele der mehr als siebzig kurzen Kapitel leitet er mit Zitaten ein. Es finden sich zahlreiche Fußnoten, Wegbeschreibungen, Listen, sogar ein Autismus-Selbsttest. Dazu Youtube-Kommentare und Beschreibungen von McLuhan-Werken, die Anbieter auf den Seiten von Online-Buchhandlungen hinterlassen haben. Auch der berühmte Dialog aus Woody Allens Film „Der Stadtneurotiker“ - in dem der Professor einen denkwürdigen Auftritt hat - wird wiedergegeben.

          Dem Biographen gelingt ein schwieriger Spagat: Scheinbar mühelos verbindet er Episoden aus McLuhans Leben mit dessen wichtigsten Theorien und schlägt außerdem Brücken zur gegenwärtigen Medienkultur. Schade eigentlich, denkt man bei der Lektüre, dass McLuhan zehn Jahre vor der Geburt des World Wide Web gestorben ist. Coupland ist begeistert von Facettenreichtum des Theoretikers, der Ezra Pound, James Joyce und elisabethanische Satiriker bewunderte und gleichzeitig die elektronische Medienwelt so präzise analysierte. Augenzwinkernd schildert er Marshall McLuhan als Kuriosum; ein erzkatholischer Professor mit autistischen Tendenzen, der die besten Ideen direkt vor seinen Zuhörern entwickelte und dabei zu grandiosen Wortspielen fand; dessen Gehirn gleich von zwei Arterien mit Blut versorgt wurde und der lebenslang mit unzähligen Schlaganfällen zu kämpfen hatte; ein Hippie-Idol mit reaktionären Ansichten und auch noch besessen von Chic Youngs Comicfigur Dagwood Bumstead.

          Marshall McLuhan, der dieses Jahr seinen hundertsten Geburtstag gefeiert hätte, war auch ein selbstverliebter und ungeduldiger Mann, der sich nicht mit uninteressanten Dingen befassen wollte. Bevor er ein Buch las, blätterte er stets auf Seite 69. Gefiel sie ihm, las er das ganze Buch, andernfalls legte er es gleich wieder aus der Hand. Douglas Couplands Biographie hält selbstverständlich auch diesem Test stand.

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