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Dipesh Chakrabarty: Europa als Provinz : Geschichte von den Rändern her

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Bild: Archiv

Gegen den Eurozentrismus: Ein beeindruckender Band des bengalischen Historikers Dipesh Chakrabarty gibt Einblick in die Ziele der postkolonialen Geschichtsschreibung und die Folgen des Kulturimperialismus.

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          „Europa provinzialisieren“ gehört inzwischen zu den Standardformeln der Geistes- und Sozialwissenschaften. Sie wird durchaus auch von jenen gebraucht, die sich ansonsten mit postkolonialen Ansätzen eher schwertun. Die Einsicht, dass die Geschichte (West-)Europas nicht, wie lange geschehen, mit „allgemeiner“ Geschichte gleichgesetzt werden darf, ist inzwischen verbreitet, selbst wenn die Ansichten darüber, wie stark Europa die Geschichte der Welt geprägt hat, deutlich variieren. Im deutschen Kontext gebührt nicht zuletzt dem Althistoriker Christian Meier die Ehre, bereits auf dem Historikertag 1988 klare Worte gegen die nationalhistorische Selbstbezogenheit und Selbstprovinzialisierung der Zunft gefunden zu haben.

          Als Dipesh Chakrabarty vor zehn Jahren sein viel Aufsehen erregendes Buch „Provincializing Europe“ publizierte, war die Kritik an der eurozentrischen Meistererzählung bereits in vollem Gange. Der indische, in Chicago lehrende Historiker diskutierte insbesondere die Schwierigkeiten, sich von dieser Erzählung zu emanzipieren und Europa zu „provinzialisieren“. In diesem Zusammenhang problematisierte er ein grundlegendes Dilemma postkolonialer Geschichtsschreibung: Das begriffliche Instrumentarium der europäischen Sozial- und Kulturwissenschaften trage, so Chakrabarty, ganz unabhängig von den Intentionen der jeweiligen Autoren dazu bei, die Geschichte Europas zum Modell einer universalen „Entwicklung“ zu machen. Vermeintlich neutrale analytische Termini wie Nation, Revolution oder Fortschritt transformierten jedoch eine europäische Erfahrung in eine universalistisch daherkommende Theoriesprache, welche die Deutung der jeweils lokalen Vergangenheiten bereits präfiguriere und „europäisiere“.

          Die janusköpfige Gestalt Europas

          Auf diesen Befund gedachte Chakrabarty jedoch nicht mit der Revitalisierung „vormoderner“ und nativistischer Alternativen zu antworten, sondern mit dem, wie er es nannte, „unmöglichen“ Projekt, Europa zu provinzialisieren. Er forderte eine Geschichte der Moderne, die ihre eigenen repressiven Fundamente, Ausschließungen und Marginalisierungen mitzudenken in der Lage ist. Frederick Cooper hat kritisch vermerkt, dass Chakrabarty zwar proklamiert habe, die Geschichte Europas als Besonderheit und nicht als universales Modell zu betrachten, dann aber das Gegenteil tat: Nachaufklärerische Rationalität, bürgerliche Gleichheit, Moderne, Liberalismus erschienen bei Chakrabarty keineswegs als „provinzielle“ Ideologien, sondern als ein Raster von Wissen und Macht, das Menschen dazu zwingt, ihre unterschiedlichen Vorstellungen von Gemeinschaft zugunsten einer Eins-zu-eins-Beziehung zwischen dem unspezifischen Individuum und dem Nationalstaat aufzugeben. Bestenfalls könnten sie nach „Alternativen“ zu einer Moderne streben, die entschieden einzigartig und entschieden europäisch sei. Die europäische Geschichte werde bei Chakrabarty zu einer einzigen nachaufklärerischen Ära eingeebnet.

          Auf diesen doch fundamentalen Einwand reagiert Chakrabarty im kurzen Vorwort zu seiner jüngst erschienenen deutschsprachigen Sammlung von Aufsätzen jedoch nicht explizit. Er verweist lediglich recht allgemein auf die janusköpfige Gestalt Europas sowie auf die unterschiedlichen Bedeutungen, die Europa für jene gehabt haben könnte, die unter seine materielle und geistige Herrschaft gerieten. Der Band versammelt vornehmlich Kapitel aus den Büchern „Provincializing Europe“ und „Habitats of Modernity“ sowie einige jüngere Aufsätze etwa zum „Klima der Geschichte“. Abgerundet wird er durch ein Interview, das Ralf Grötker mit Chakrabarty über die Entstehung und Bedeutung der „Subaltern Studies“ geführt hat.

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