: Die Verfassung der Väter
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Bruce Ackerman, Staatsrechtler und Politologe an der Yale Law School, ist hierzulande mit seinem sozialreformerischen Buch "Die Stakeholder-Gesellschaft" (Campus) bekannt geworden. Jetzt greift er mit einer mikroskopischen Studie in die Debatte um die Auslegung der amerikanischen Verfassung ein. Im Februar 1801 stand die Nation vor dem Bürgerkrieg.
Bruce Ackerman, Staatsrechtler und Politologe an der Yale Law School, ist hierzulande mit seinem sozialreformerischen Buch "Die Stakeholder-Gesellschaft" (Campus) bekannt geworden. Jetzt greift er mit einer mikroskopischen Studie in die Debatte um die Auslegung der amerikanischen Verfassung ein. Im Februar 1801 stand die Nation vor dem Bürgerkrieg. Die Präsidentschaftswahl war im Wahlmännergremium in eine Sackgasse geraten, mit Stimmengleichstand zwischen dem (demokratisch-)republikanischen Präsidentschaftskandidaten Thomas Jefferson und seinem für das Vizepräsidentenamt vorgesehenen Parteigänger Aaron Burr. Nun mußte das mehrheitlich föderalistische Repräsentantenhaus entscheiden, und noch nach sechs Tagen und 35 Wahlgängen fehlte Jefferson die notwendige neunte Stimme einer Staatendelegation zur entscheidenden Mehrheit. Bedrohlich zeichnete sich ein Machtvakuum ab: Am 4. März würde die Amtszeit des abgewählten John Adams zu Ende gehen, und die Verfassung schwieg sich über eine Lösung des Dilemmas aus.
Schon zogen die (demokratisch-)republikanischen Gouverneure von Pennsylvania und Virginia Truppen zum Marsch auf Washington zusammen, um einen beherzten Griff der Föderalisten nach dem Präsidentenamt abzuwehren. Um die Baustelle des kaum halbfertigen Kapitols sammelte sich eine aufgewühlte Volksmenge, überall wurde lautstark debattiert. In den Zeitungen erschienen Aufsätze wie der elegant und gewinnend formulierte Vorschlag eines gewissen "Horatius" zur Lösung des präsidialen Verfassungsknotens ("The Presidential Knot"), den der Verfassungsrechtler Bruce Ackerman in seiner spannend erzählten Darstellung der "Revolution von 1800" Außenminister John Marshall zuschreibt, den Adams noch kurz vor Ende seiner Amtszeit zum Chefrichter ernannte.
Folgt man Ackermans These, dann sah sich Marshall selbst in der Rolle des von der Verfassung nicht vorgesehenen Interimspräsidenten, juristisch fest gegründet auf Argumente, die in seinen Urteilen später immer wiederkehren. Doch es kam anders: Im 36. Wahlgang wurde Jefferson zum dritten Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt. Daß er selbst dabei die Stimmen auszählte, ist nur eine von den zahlreichen verfassungsrechtlichen Kuriositäten, die diese faszinierende Skizze eines Schlüsselmoments der amerikanischen Verfassungsgeschichte aufdeckt. In einer Potentialgeschichte, die den Leser an historische Weggabelungen zurückversetzt, entzaubert der an der Yale Law School lehrende Juraprofessor die Gründerväter und ihren bei allem Glanz doch unvollkommenen Verfassungstext. "Das konstitutionelle Wunder, wenn man davon sprechen kann, geschah nicht 1787 in Philadelphia, sondern 1801 in Washington", schreibt Ackerman. Denn: "Es ist eine Sache, eine Verfassung zu schreiben - eine andere ist es, ob diese die Zeitläufte überlebt, und noch einmal ein anderes, ob sie bestehen kann in einer Welt, für die diese Verfassung nicht gemacht war."