Musiktheorie aus Frankreich : Klein ist das Reich des Virtuosen
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Der am Anfang des Bandes stehende musikalisch-philosophische Essay „Das Nocturne“, der 1942 während Jankélévitchs Zeit in der Résistance heimlich gedruckt wurde, nimmt dabei eine Schlüsselposition ein: Er enthält bereits das zentrale Thema der als „nächtlich“ bestimmten Musik, die sich sowohl der tätigen Sphäre des Menschen als auch einem philosophischen Rationalismus oder Systemgedanken entgegensetzt. Die Leidenschaft, mit der Jankélévitch für eine Reihe von französischen und russischen Komponisten eintritt – insbesondere Fauré, Debussy, Ravel und Mussorgski –, entspricht dabei seiner Entscheidung, die deutsch-österreichische Musik mit keinem Wort mehr zu erwähnen. Die Namen Wagner und Richard Strauss, die in frühen Versionen seiner Schriften noch mit polemischen Äußerungen bedacht werden, verschwinden. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg gilt Jankélévitch Faurés Musik mit ihrer „sanften Kraft“ und ihrer „frühlingshaften Frische“ vor allem als Gegengift gegen die „unsaubere Rhetorik“ der Wagner’schen Tetralogie: „Die Menschenfresser und die Walküren unseres Alptraums sind schon nur noch zitternde Phantome. Selbst ihr Name soll vergessen werden!“
Die Gurgel der Primadonna
Im Bereich der Philosophie vollzieht sich der Bruch nicht nur mit dem Stillschweigen, mit dem Heidegger gestraft wird, sondern auch durch die Distanz zu den von diesem beeinflussten und in der Nachkriegszeit dominanten Pariser Intellektuellen wie Sartre oder Merleau-Ponty, für die Jankélévitch noch in seinem letzten, hier erstmals auf Deutsch abgedruckten Interview harte Worte fand. Wie nicht nur dieser Text vorführt, wäre es zu einfach, seine ästhetischen und politischen Stellungnahmen pauschal auf einen „Antigermanismus“ zurückzuführen. Wenn sich auch ab den fünfziger Jahren kaum noch deutsche Namen in seinen Schriften finden, tauchen an zentralen Stellen dennoch Schelling, Georg Simmel und selbst Nietzsche auf. Und im Bereich der Musik behalten Schubert und Schumann, auch wenn sie nur gelegentlich erwähnt werden, dennoch ihren besonderen Platz.
Ein wesentlicher Teil von Jankélévitchs musikphilosophischen Schriften ist Reflexionen über den Status und die Praxis der Interpreten gewidmet. In den beiden großen Essays über die Improvisation (1955) und die Virtuosität (1979) wird deren Rolle als zwiespältig bestimmt. Vehement und mit Worten, die auch heute nichts von ihrer Schärfe verloren haben, richtet sich Jankélévitch gegen einen zum Spektakel verkommenen Konzertbetrieb, in dem das Publikum der Fingerfertigkeit des Instrumentalisten oder der geläufigen Gurgel der Primadonna applaudiert. „Die Virtuosität kreist ein kleines Reich des Ruhmes ein, ein Reich, dessen Zwergkönig für einen Abend der Virtuose ist, ein lärmendes Reich voller Geschrei und Hochrufe!“ Siege, die jedoch nichtig und vergänglich sind. Denn wer kennt heute noch Sigismund Thalberg, der einst als Klaviervirtuose mit Liszt wetteiferte? Doch gelangt Jankélévitch auch zu einer positiven Bestimmung von Virtuosität und ihrer poetischen Kraft, die sich vor allem im vielfältigen Werk von Franz Liszt manifestiert, den er als den schlechthin modernen Komponisten und Interpreten seiner selbst bestimmt. Ihre weitere Ausprägung erfahre sie im zwanzigsten Jahrhundert, bei Debussy, Ravel, Prokofjew und Rachmaninow, die jeweils auf ihre Weise die Ernsthaftigkeit des Spiels und die „Tiefe des Scheins“ wiederentdeckten.