Baltikum-Bildband : Im Park am Rande der Ostsee
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Herrenhaus Kolk (Estland), nach dem Umbau in den 1820er Jahren. Bild: Thomas Helms (aus dem besprochenen Band)
Ein Dreivierteljahrtausend lang hat es deutsches Leben im Baltikum gegeben. Zahlreiche Herrenhäuser zeugen noch heute davon. Agnese Bergholde-Wolf gibt eine kleine, bildreiche Einführung in deren Welt.
Was adeliges Leben im Baltikum einmal war, davon erzählen die Romane Eduard von Keyserlings mit ihren haltlosen Seelen auf alten Landsitzen, umgeben von großen Parks samt hellen Kieswegen und dunklen Alleen. Der Name „Keyserling“ kommt in der kleinen, aber konzisen Bildbroschüre „Adeliges Leben im Baltikum“ von Agnese Bergolde-Wolf nicht vor, jedoch jede Menge anderer Namen deutschbaltischer Familien, die in der Kultur- und Wissenschaftsgeschichte Europas ihre Spuren hinterlassen haben: Uexküll, Krusenstern, von Rosen, Lambsdorff, von Campenhausen. Dass auch der italienische Schriftsteller Giuseppe Tomasi di Lampedusa, der Autor des „Leoparden“, mit einer Deutschbaltin verheiratet war, der Psychoanalytikerin Alexandra von Wolff, und dass er mehrmals Schloss Stomersee, den Stammsitz der Familie im heutigen Lettland, besuchte, erfährt man eher en passant bei der Lektüre der Bildunterschriften.
Es mag opulentere Bücher geben über die deutschbaltischen Herrenhäuser. Dieses hier, verlegt vom Deutschen Kulturforum östliches Europa Potsdam und dem Herder-Institut Marburg, hat mit seiner Auswahl von gut vierzig Beispielen gar keinen enzyklopädischen Anspruch, aber es gibt mit den kurz gefassten Texten der lettisch-deutschen Kunsthistorikerin und Philologin eine sachliche Einführung in diese versunkene Welt.
„Baltikum“, dieser Begriff aus dem neunzehnten Jahrhundert, bezeichnet heute etwas anderes als zur Zeit seines Aufkommens. Während wir darunter die Republiken Litauen, Lettland und Estland verstehen, war ursprünglich damit „Alt-Livland“ gemeint, das Gebiet des Schwertbrüder-Ordens, später „Deutscher Orden“ genannt, mit den drei Provinzen Estland, Livland und Kurland, die heute in etwa das Territorium der Republiken Lettland und Estland ausmachen.
Unter den Eigentümern der Güter fanden sich auch Familien aus Polen-Litauen, Schweden und Russland; jedoch stellten Familien, die ursprünglich aus Norddeutschland oder Westfalen stammten, die Mehrheit der Landeigner, bis die Gründung der unabhängigen Staaten Lettland und Estland 1918 und die Umsiedlung der deutschbaltischen Bevölkerung 1939 im Zuge des Hitler-Stalin-Paktes – als Vorbereitung der sowjetischen Okkupation – die Geschichte dieser Familien im Baltikum beendete. Die Mindestgröße für ein Gut betrug 328 Hektar. Besonders im neunzehnten Jahrhundert, mit Beginn einer technisierten Landwirtschaft, brachte der Handel mit Getreide, Branntwein, Milch- und Fleischprodukten vielen Gutsbesitzern ansehnlichen Wohlstand.
Eine Wirtschafts- und Sozialgeschichte kann dieses Büchlein nicht liefern. Es führt vor allem durch die Baugeschichte: von den ersten Wohntürmen über die Holzhäuser – weil Zar Peter I., der Estland und Livland 1721 annektiert hatte, den Bau von Steinhäusern für die Zeit der Errichtung St. Petersburgs verbot – zu den Landsitzen späterer Zeit. Schlichte Zweigeschosser mit Strohdach, wie auch in Pommern üblich, sind ebenso darunter wie flamboyante Schlösser. Zur Zeit Katharinas der Großen, die auch noch Kurland annektiert hatte, wurden von den deutschbaltischen Herren italienische Architekten wie Francesco Carlo Boffo und Giacomo Quarenghi beschäftigt. Später kamen englische Vorbilder in Mode; die preußische Neugotik eines Friedrich August Stüler machte auch im Baltikum Schule. Im Innern konnte man alte Wandmalereien auf Holz finden, große Bibliotheken oder Marmorstatuen aus der Werkstatt von Bertel Thorvaldsen.
In der Frühzeit staatlicher Eigenständigkeit, erst recht unter sowjetischer Okkupation, war das Erbe dieser Herrenhäuser nicht sonderlich geschätzt. Erst mit der zweiten Unabhängigkeit von 1991 an erwachte ein rekonstruktives Interesse an den Bauten, nicht zuletzt auch um einen Nostalgietourismus anzuregen und von ihm zu profitieren. Wenn Agnese Bergholde-Wolf die Zäsur 1918–1920 als „Baltische Tragödie“ überschreibt, nimmt sie damit die Sicht der deutschbaltischen Familien ein, die ihrer Privilegien verlustig gingen und einen Großteil ihrer Einkünfte verloren. Wer die estnische Literatur von Eduard Vilde und Anton Hansen Tammsaare, auch den historischen Roman „Der Verrückte des Zaren“ von Jaan Kross über Timotheus von Bock kennt, der weiß allerdings, dass aus estnischer und lettischer Sicht die alten Zeiten auch die einer grausamen Sklaverei waren.
Doch eine lange und bedeutende Kulturgeschichte ist mit dem Leben der deutschbaltischen Familien in den alten Ostseeprovinzen verbunden. Zu einem kleinen Teil davon eröffnet dieses Büchlein einen hübsch anzuschauenden Zugang.