Alexander Kluge über Russland : Wie Anna Karenina glücklich wurde
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Kunst der Überraschung: Filmstill aus dem sowjetischen Kinoklassiker „Zirkus“ von Grigori Alexandrow von 1936. Bild: Archiv Kairos Film
Die Bodenturner der Transformation enden meist tragisch: Alexander Kluges „Russland-Kontainer“ ist ein virtuoses Dokumentarzirkusstück für Kenner.
Der unerschöpfliche Geschichtenerzähler Alexander Kluge hat wieder eine poetische Doku-Wunderkammer zwischen Buchdeckeln vorgelegt. Er berichte von einem ihm fremden Land, schreibt Kluge nicht ganz wahrheitsgemäß am Beginn seines „Russland-Kontainers“, einer Sammlung disparater, assoziativ geordneter Texte über Mitgestalter russischer Wirtschafts-, Wissenschafts- und Kulturgeschichte, die von breiter Sachkenntnis kündet und, unterbrochen von Tagebuchnotizen des Autors, ein Wimmelbild zumeist gescheiterter Projekte ergibt.
Ein Buch für das laufende Krisenjahr

Redakteurin im Feuilleton.
Der mit Filmstills, Grafiken und Fotos illustrierte Band nimmt Themen früherer Kluge-Bücher auf, etwa Napoleons und Hitlers Russland-Feldzüge, revolutionäre Utopien und Terror, Raumfahrt und Perestroika; entstanden sei er freilich als Abbitte an seine vor drei Jahren verstorbene Schwester Alexandra, über deren an der DDR-Schule erworbenes Russland-Faible sich die Familie lustig gemacht habe, erfährt man. Der Blick zurück auf die kolossale Erfahrung sozialer Erosion in diesem Land passt aber vor allem bestens ins laufende Krisenjahr, in dem kumulierende Probleme den Zukunftshorizont zunehmend versperren – und das nicht nur in Russland.
Die Methode der Materialsammlung ist Kluges künstlerisches Credo. Er will Geschichte nicht als Korsett konsekutiver Abläufe vorführen, sondern als Polyphonie von Zielstrebigkeiten, die dem Leser eigene Arbeit abverlangt. Darin versteht Kluge sich als Romancier. Vor allem aber liebt er den Zirkus. Er schildert, wie der sowjetische Staatszirkus „Sieg des Proletariats“ im Juli 1941 vom deutschen Überfall in Weißrussland überrascht und dennoch glücklich evakuiert wurde. Nach der Wende 1989 setzte dann im ehemaligen Ostblock das große Zirkussterben ein. Der „Russland-Kontainer“ mit seinem K als Hommage an die russische Schreibweise lässt Momentaufnahmen historischer Nervenpunkte zirkushaft nach dem Überraschungsprinzip aufeinanderfolgen und bringt das Publikum durch artistische Mystifikation zum Staunen.
Der Geheimnisträger spricht ohne Worte
Kluge hat politische Entscheider aus Russland getroffen, zum Beispiel den Nahostexperten Jewgeni Primakow, der als russischer Außenminister unter Jelzin Einflussverluste seines Landes wieder wettzumachen versuchte. Der verriet ihm, dass, wären im ersten Golfkrieg die Amerikaner bis nach Bagdad vorgestoßen, sowjetische Militärs Gorbatschow gestürzt und eingegriffen hätten – allerdings soll Primakow ihm das ganz ohne Worte, nur durch geheime Signale im Augenhintergrund mitgeteilt haben. Kluges besondere Sympathie gilt dem Reformator Gorbatschow, dessen Projekt, die Sowjetunion zu erhalten, scheiterte, weil er nach dem gescheiterten Augustputsch 1991 die systemerhaltenden Kräfte nicht mehr mobilisieren konnte. Im Gegensatz zu den „Buschräubern von Minsk“ – Russland, der Ukraine, Weißrussland –, denen ihre staatliche Abkopplung Beute versprach, hätte Gorbatschows Gegen- koalition sich auf Verzichtsbereitschaft gründen müssen.
So widmet sich Kluges zentrales Kapitel dem Raubtierblick des Beutemachers auf die Landkarte. Seine Erörterung der „Herzland“-Theorie des britischen Geostrategen Halford Mackinder (1861 bis 1947), wonach eine starke Macht im osteuropäisch-westsibirischen Raum die Welt dominieren werde, charakterisiert den Theoretiker des britischen Imperiums nebenbei auch als Eroberer neuer Forschungsressourcen. Und zeigt Mackinder 1920 als schmallippigen Unterhändler mit geschlagenen Einheiten der Weißen Armee in Südrussland, weil er ein Wiedererstarken des Russischen Reiches um jeden Preis verhindern will. Was den Engländer mit Napoleon, Hitler und ihren Truppenkommandeuren verbindet, ist in Kluges Darstellung, dass alle Russland als Beutestück ansahen, das sie zugleich nicht „haben“, das heißt erkunden und kultivieren, wollten – ein Motiv, das der Autor parallel auch in erotischen Eroberungskonstellationen durchspielt.