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Mafiapoetics : Die Erfindung der Mafia

Ein Pilger vor dem Altar der Madonna dell’Arco trägt ihr Abbild auf der Schulter. Bild: Salvatore Esposito/contrasto/laif

War die Mafia einst ein Mythos, der anschließend wahr wurde? Ulrich van Loyen spürt dem vielschichtigen Verhältnis von Literatur und organisiertem Verbrechen nach.

          6 Min.

          Die Mafia hat seit Jahrzehnten einen festen Platz in der Popkultur. Und weil die Popkultur immer Bilder braucht, denken viele Leute, wenn es um die Mafia geht, weniger an unscheinbare Männer, die auch in Deutschland Geschäfte machen, als an tätowierte Kleinganoven mit Undercut, die in Neapels Altstadt herumballern. Was nicht bedeutet, es gäbe keine Beziehung zwischen Wahrheit und Fiktion, zwischen echter Mafia und Fernsehgangstern. Das sieht man daran, dass neapolitanische Kleinkriminelle ihre eigenen Abbilder im Fernsehen kennen und diese wiederum zurück in die Wirklichkeit kopieren.

          Anna Vollmer
          Redakteurin im Feuilleton.

          Diese Beobachtung ist nicht neu. Es gab sie schon, als Anfang der Siebzigerjahre „Der Pate“ in die Kinos kam. Der Ethnologe und Literaturwissenschaftler Ulrich van Loyen stellt seinem neuen Buch „Der Pate und sein Schatten – Die Literatur der Mafia“ aber eine steilere These voran. Er schreibt: „Allerdings könnte man auch erwägen, dass die Ursprünge der Mafia vor allem inszeniert werden, sprachlich und literarisch, um sie dann in die Tat umzusetzen. Die Mafia stellte, so gesehen, eine Erfindung dar, einen Mythos, der anschließend seine Wahrheit behauptet.“ Eine Überlegung, die van Loyen nicht klar belegen kann, schon allein, weil niemand so genau weiß, wie die Mafia im 19. Jahrhundert eigentlich entstanden ist.

          Bilder, Zeichen und Erzählungen

          Doch ist „Der Pate und sein Schatten“ kein Geschichtsbuch. Und so werden die Verbrechen der Mafia, die Maxiprozesse, mit denen die italienische Staatsanwaltschaft gegen das organisierte Verbrechen vorging und -geht, nur am Rande erwähnt. Van Loyens Essay, der sprunghaft und zuweilen überaus komplex ist, interessiert sich für „Mafiapoetics“, wie er es nennt – für die Bilder, Zeichen und Erzählungen, mit denen die Mafia ihr eigenes Bild erschafft. Diese ethnologische Perspektive klingt der brutalen Realität des organisierten Verbrechens zunächst einmal wenig angemessen. Sie ist aber doch ein guter Ansatz, um nicht nur von der Mafia und ihrem Selbstverständnis, sondern auch von unserem gesellschaftlichen Verhältnis zu ihr zu erzählen.

          Ulrich van Loyen: „Der Pate und sein Schatten“. Die Literatur der Mafia.
          Ulrich van Loyen: „Der Pate und sein Schatten“. Die Literatur der Mafia. : Bild: Matthes & Seitz Verlag

          Van Loyen betrachtet zunächst alle drei großen kriminellen Vereinigungen, die sizilianische Cosa Nostra, die kala­bresische ’ndrangheta und die neapolitanische Camorra, die er, aufgrund ihrer unterschiedlichen Organisationsform und Geschichte, scharf voneinander trennt. Gemein ist ihnen allerdings, sich Literatur und Legenden auf unterschiedliche Weise zunutze zu machen. Die Beispiele, die der Autor hierfür anführt, sind zahlreich. So brachte der Anwalt des neapolitanischen Bosses Raffaele Cutolo eine Sammlung von dessen Gedichten heraus und argumentierte, ein so empfindsamer Mann wie dieser könne kaum die ihm zugeschriebenen Verbrechen begehen. Und als vor einigen Jahren Videoaufnahmen auftauchten, auf denen zu sehen war, dass sich zukünftige Mitglieder der ’ndrangheta bei ihrem Aufnahmeritual auf die Legende dreier spanischer Soldaten, Osso, Mastrosso und Carcagnosso, beziehen, behaupteten die ’ndranghetisti in der Gerichtsverhandlung, dies sei lediglich eine folkloristische Darstellung. Der Versuch, „sich als traditionswahrende Laienspielgruppe zu inszenieren“, blieb vor Gericht zwar meistens erfolglos, schreibt van Loyen lapidar. In vielen anderen Fällen ging die Strategie jedoch auf.

          Wie Folklore der Mafia dient

          Besonders der ’ndrangheta gelang es immer wieder, ihre Außenwahrnehmung so mit dem regionalen Brauchtum verschwimmen zu lassen, dass sie nicht auffiel oder schlicht romantisiert wurde. Internationale Medien hatten daran durchaus ihren Anteil. In einem Kapitel erzählt das Buch den Fall des italienischen Journalisten Francesco Sbano, der von 1999 bis 2001 drei Alben mit dem Titel „Il Canto di malavita – La musica della Mafia“ („Der Gesang der Unterwelt – Die Musik der Mafia“) veröffentlichte, vermutlich wenig authentische Lieder, die vom archaischen Leben in Kalabrien handeln. Während die Antimafia-Bewegung Sbano stark kritisierte und ein Streit entstand, der jahrelang anhielt, wurde der Journalist von Teilen der Presse gefeiert. Im Magazin „Der Spiegel“ war beispielsweise zu lesen: „Was bleibt, ist ein Album voll wunderschön-poetischer Folklore, die noch dazu den verschwörerischen Duft verbotener Früchte verströmt. Sie wird uns den ganzen Sommer über begleiten.“ Mit den verbotenen Früchten war, zum Beispiel, die Blutrache gemeint. Der Artikel schließt mit den Worten: „Demnächst gibt’s zur Pizza Calabrese also endlich Passenderes als ewig Eros Ramazzotti.“

          Nun ist das einige Zeit her. Doch gibt es eine Idee davon, warum das organisierte Verbrechen in Deutschland lange Zeit verharmlost wurde. „Früher hatte man nämlich noch Angst vor der Mafia“, heißt es im „Spiegel“ im Zusammenhang mit Musik, die Werbung für eine der größten Verbrecherorganisationen der Welt macht.

          Die Camorra und die Popkultur

          Auch wenn „Der Pate und sein Schatten“ sich mit allen drei großen Organisationen beschäftigt und dabei mit einer ganzen Fülle von Kuriositäten aufwarten kann (ein Highlight ist der Titel der Kindheitserinnerungen eines Sohns des sizilianischen Mafiabosses Totò Riina, „Riina Family Life“), so beleuchtet er doch vor allem die literarische Produktion der Camorra. Das liegt nahe, erstens weil van Loyen vor allem in Neapel recherchierte und dabei mit vielen Kleinkriminellen in Kontakt kam, die ihm irgendwann ihre Texte und Tattoos zeigten. Zweitens weil gerade die Verbindung von Popkultur und Camorra in den letzten Jahren eine größere Rolle spielte. So war einer der Caster für „Gomorrha“, die Serienverfilmung des Bestsellers von Roberto Saviano, der Sohn eines inhaftierten Camorrista, der teilweise echte Kleinganoven als Schauspieler aussuchte. Das war zwar authentisch, für die Produktion aber nicht nur von Vorteil, denn „gelegentlich kam es vor, dass Darsteller vom Set weg verhaftet wurden“, heißt es im Buch. „Die Produzenten wurden immer ärgerlicher: Zwar hatte man diese Darsteller wegen ihrer Street Credibility gebucht, aber sicher nicht, damit diese dem Produkt in die Quere kamen.“ Ein anderes Beispiel ist die neapolitanische Schlagermusik, die „musica neomelodica“, zu der teilweise gar ehemalige Bosse ein paar Songs beisteuerten.

          Dass gerade in Neapel die Produktion von Serien, Büchern und Musik aus der Mafiakultur explodierte, erklärt van Loyen auch damit, dass alle berühmten neapolitanischen Clanchefs entweder nicht mehr leben oder im Gefängnis sitzen, die große Zeit der Camorra, etwa im Vergleich zur ’ndrangheta, also vorbei ist. War das Schweigen früher groß, so sind nun alle erstaunlich beredt. „Die Kultur“, so der Autor, „bietet dem Verbrechen die Per­spektive einer Verwandlung.“

          Ein intellektueller Boss

          Ein gutes Beispiel dafür ist Giuseppe Misso. Der Neapolitaner aus dem Viertel Sanità, Gründer und ehemaliger Boss des Misso-Clans, hat insgesamt über dreißig Jahre in diversen Gefängnissen in ganz Italien verbracht, zwölf davon in Isolationshaft. Aktuell steht er unter Hausarrest. Während seiner Gefangenschaft schrieb er zwei als Romane verkleidete Autobiographien, „I leoni di marmo“ (Die Marmorlöwen) und „Il chiarificatore“ (Der Aufklärer), die in den Medien nicht nur kritisch besprochen wurden. „In der Stille, in der Dunkelheit der härtesten Gefängnisse Italiens hat er angefangen zu lesen, zu lernen und sich mit seinem Gewissen zu beschäftigen“, heißt es in einem Porträt Missos in der italienischen Tageszeitung „Il Fatto Quotidiano“ aus dem Jahr 2016 anlässlich der Veröffentlichung seines zweiten Romans. Kurz darauf zitiert Misso Céline und Dostojewski und darf den Intellektuellen geben. Das macht offenbar Eindruck. Und so kann auch Mafia-Experte Roberto Saviano seine Faszination für Misso kaum verbergen: Im Gegensatz zu vielen anderen Mafia-Poeten bleibe Missos philosophische Bildung keineswegs an der Oberfläche, schreibt er in einer langen Rezension zur Neuauflage von „I leoni di marmo“ in der Tageszeitung „Corriere della sera“. An anderer Stelle heißt es, Missos Beziehung zu Luigi Giuliano, seinem Kindheitsfreund und dann erbitterten Gegner, sei „auf eine außergewöhnliche und unglaubliche Weise eine der epischs­ten der internationalen Verbrechensgeschichte“.

          Das Tattoo eines neapolitanischen Kriminellen
          Das Tattoo eines neapolitanischen Kriminellen : Bild: Salvatore Esposito/contrasto/laif

          Van Loyen macht klar, wer sich hier eigentlich wie präsentiert: Zwar inszeniere sich Misso gern als eine Art Robin Hood, der sich lediglich der Mittel seiner Gegner bediene, um sie zu bekämpfen. Allerdings habe genau dieser Robin Hood noch Jahre nach seinen Gerichtsverhandlungen jugendliche Zeugen erschießen lassen. Auch seine enge Verbindung zum rechtsextremen Terrorismus erwähne er in seinen Büchern nur am Rande.

          Verharmlosung oder Dokumentation?

          Viele Bücher und Filme, die sich mit der Mafia beschäftigen, wandeln auf dem schmalen Grat zwischen Dokumentation und Verherrlichung. Das liegt nicht unbedingt daran, dass sie die Taten dieser Organisationen verschleiern würden, im Gegenteil: Wie hier geschossen und gemordet wird, gehört unbedingt dazu. Aber in den meisten Fällen rücken sie nicht Opfer oder Ermittler in den Vordergrund, sondern die Täter. Und sollten diese noch so skrupellos und grausam sein: Die Version der Geschichte, die wir zu sehen bekommen, ist ihre. Van Loyens Buch ist in dieser Hinsicht keine Ausnahme, nicht umsonst trägt es den Titel „Die Literatur der Mafia“. Und dass der Autor eine gewisse Sympathie für neapolitanische Kriminelle mit ihren Tattoos, Geschichten und Liedern hat, verhehlt er kaum. Doch er weiß sehr wohl selbst um dieses Paradox und macht einen Unterschied zwischen den organisierten Verbrechen der ’ndrangheta, deren archaische Aufnahmerituale von außen betrachtet spielerisch scheinen, aber „ernste Spiele“ sind. Und den Handlangern und Kleingangstern, deren prekäre Lage ihnen kaum mehr bietet als die Kriminalität. Hier dienen literarische Produktion und der Schmuck des eigenen Körpers mit einer bestimmten Ikonographie nicht dazu, Verbrechen zu verharmlosen, sie entspringen einem Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Sinn. In diesen Zusammenhang stellt van Loyen etwa den Kult um die Madonna dell’Arco, der eine Kirche außerhalb Neapels gewidmet ist und die viele als Mutter der Kriminellen sehen.

          Den Wunsch nach Gemeinschaft nutzt die Mafia für sich. Das funktioniert besonders dort gut, wo die Lebensumstände unsicher sind und Ausweglosigkeit den Alltag bestimmt. Mit ihren Ritualen und Bildern, ihrer Literatur gaukelt die Mafia Wärme und Vertrauenswürdigkeit vor. Obwohl in Wirklichkeit genau das Gegenteil der Fall ist.

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