Kulinarische Zeitgeschichte : Wie Dotschen und Hirn aus der Küche verschwanden
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Verdienstvoller Blick über den Tellerrand: Die Biographie des Kochbuchs wurde dank einer Crowdfunding-Kampagne möglich. Bild: dpa
Das „Bayerische Kochbuch“ ist nicht nur ein Klassiker, sondern auch politischer Kampfplatz und Spiegel der Gesellschaft. Regina Frisch hat ihm eine Biographie gewidmet – ein Gericht voller Überraschungen.
In Joseph Roths Abgesang auf die k. u. k. Monarchie, dem „Radetzkymarsch“ (1932), steht in einer der für den Roman zentralen Tischszenen nicht von ungefähr ein Tafelspitz im Mittelpunkt. Dabei spiegelt sich der dräuende Untergang Kakaniens weniger – und allzu vordergründig – in dem schlampig tranchierten Stück Fleisch wider als vielmehr im Abspulen des starren Rituals, zu dem der sonntägliche Mittagstisch im Haus des verwitweten Bezirkshauptmanns Freiherr Franz von Trotta verkommen ist, in der Reduktion der Speisen auf deren Schauwert bei gleichzeitig sich auflösender Substanz.
Das „Bayerische Kochbuch“ kann sich mit seiner altmodischen Anmutung – Fraktur-Titel-Schriftzug, kaum Abbildungen, nur wenige Fotos – und dem spröden, didaktischen Ton in einem Umfeld, das optisch ganz auf Opulenz und textlich auf ranschmeißerisch-redselig gestellt ist, behaupten. Nach wie vor werden jährlich gut 20000 Exemplare verkauft, und mit der aktuellen 56. Auflage hat der inzwischen fast tausend Seiten starke weiß-blaue Klassiker eine Auflage von 1,6 Millionen Exemplaren erreicht. Was ihm seinen Platz in den Küchen sichert? – Er ist mit seinen präzisen Angaben verlässlich, hat sich über die Jahre im Küchenalltag bewährt und ist bis heute Lehrkochbuch im Hauswirtschaftsunterricht.
Kein Klimbim, kein Chichi
1749 Rezepte umfasst das Standardwerk mittlerweile, von „Aal blau“ bis „Zwiebelsuppe“. Es ist indessen weit mehr als eine Sammlung von Kochanweisungen. Es kommt vielmehr mit ausführlichen warenkundlichen Einlassungen und umfänglichen Kapiteln zu Ernährungslehre, Krankenkost, zur „Kunst des rechten Würzens“, mit Diätvorschriften für allerlei Zivilisationskrankheiten und Nährwerttabellen wie ein Handbuch für rationelle kulinarische Haushaltsführung daher. Haushälterisch von den Rezepten bis zum Erscheinungsbild, verzichtet es bis heute auf Klimbim und Chichi – bodenständig im besten Sinn.
Ungleich schwerer als ihr Forschungsgegenstand tat sich Regina Frischs „Biografie“ dieses Longsellers, deren Druck erst per Crowdfunding im Internet ermöglicht wurde. Das Diskursive hat im Umfeld des (zumindest optisch) unvermittelt Eingängigen eben keinen leichten Stand. Die Würzburger Sprachwissenschaftlerin zeichnet die Geschichte des „Bayerischen Kochbuchs“ ab ovo nach, von dem 1910 erstmals erschienenen, von der Hauswirtschaftsschule im oberbayerischen Miesbach für Wanderkochkurse zusammengestellten jägergrünen Oktavbändchen des „Bayerischen Vereins für wirtschaftliche Frauenschulen auf dem Lande“, dem ab der fünfzehnten, gründlich überarbeiteten und erheblich erweiterten Auflage (Ende 1933) die Hauswirtschaftslehrerin Maria Hofmann (1904 bis 1998) den nunmehrigen Titel und bis zur 54. Auflage (1992) auch die jeweilige Form gab.
In der diachronen Lektüre erweist sich ein vermeintlich „unschuldiges“ Kochbuch als Medium, in dem nicht nur die wirtschaftlichen und technischen, sondern auch die gesellschaftlichen und politischen Zeitläufte sich widerspiegeln. So merzte etwa die 1916 erschienene dritte Auflage chauvinistisch-„sprachpflegerisch“ in den Rezepten französische Ausdrücke aus: „Sauce“ wurde zur Soße, „Püree“ zu Brei, das Apfelsoufflé zur „Aufgezogenen Apfelspeise“. In der 17. Auflage von 1938 reihte sich die Herausgeberin ein ins Glied, um „in vorderster Front“ im „nationalen Kampf“ um „Nahrungsfreiheit“ ihre „freudige Einsatzbereitschaft“ zu bekunden.
Rezepte zur Stärkung der Volksgemeinschaft
Hofmann hatte bereits 1933 das Kapitel „Zusammengekochte Gerichte“ in „Eintopfgerichte“ umbenannt und 1936 auch neue Rezepte für den von den Nationalsozialisten zur Stärkung der Volksgemeinschaft verordneten „Eintopfsonntag“ geliefert. Diese kulinarische Gleichschaltung sollte als „Speisekarten-Manifestation der Weltgeschichte“ physiognomische Wirkungen zeitigen, wie Anton Kuh 1936 in der „Neuen Weltbühne“ ätzte: das säuerlich verhärmte Eintopfgesicht.