C.G. Jung: Ausgewählte Schriften : Warum Probleme für uns Menschen wichtig sind
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Was sind die typischen Herausforderungen in den jeweiligen Altersstufen einer Biographie? Ein klug komponierter Auswahlband versammelt die wichtigsten Werke des Tiefenpsychologen Carl Gustav Jung.
Glücklich, wer mit dem Strom schwimmt. Mit seinem persönlichen Lebensstrom. Ein Grundgesetz gelingender Biographiearbeit: Keine stehenden Gewässer bilden! Mensch wird man laut Carl Gustav Jung nicht nur einmal, sondern drei-, viermal im Laufe eines Lebens. Man war nicht eben noch jung und ist nun plötzlich alt. Dazwischen liegen Lebensstadien, von denen jedes einzelne anders gelebt werden will. Wobei das Wörtchen „anders“ die Sache herunterspielt. Man sollte sich darauf vorbereiten, so erklärt C. G. Jung - mit Sigmund Freud und Alfred Adler einer der wichtigsten psychiatrischen Schriftsteller seiner Zeit -, dass mit jeder Altersstufe eine neue Geburt ansteht. Jung nennt das: Lebensplanung betreiben, statt passivistisch und in der Haltung eines Opferlamms im bisherigen seelischen Zustand zu verharren. Wer sich vor dem Neuen, Fremden schützt und zum Vergangenen regrediert, so Jung in Anspielung auf Goethes Philosophie der organischen Entwicklung, der ist eigentlich in der gleichen neurotischen Verfassung wie derjenige, der mit dem Neuen sich identifizierend, der Vergangenheit davonläuft.
Was ist gemeint? „Ein Mann von dreißig, der noch infantil ist, ist wohl bedauernswert, aber ein jugendlicher Siebzigjähriger, ist das nicht entzückend?“, fragt Jung ironisch. „Und doch sind beide pervers, stillos, psychologische Naturwidrigkeiten. Ein Junger, der nicht kämpft und siegt, hat das Beste seiner Jugend verpasst, und ein Alter, welcher auf das Geheimnis der Bäche, die von Gipfeln in Täler rauschen, nicht zu lauschen versteht, ist sinnlos, eine geistige Mumie, welche nichts ist als erstarrte Vergangenheit. Er steht abseits von seinem Leben, maschinengleich sich wiederholend bis zur äußersten Abgedroschenheit. Was für eine Kultur, die solcher Schattengestalten bedarf!“
Medikalisierung des Seelenlebens
Jung interessiert das Vorhersagbare an den Altersstufen, das Typische, auf das man sich einstellen kann, ohne deshalb ein Manual der Lebensführung, ohne Antworten mit exaktem oder zwingendem Charakter bieten zu wollen. Von Problemen der menschlichen Altersstufen zu handeln, heißt für Jung von Schwierigkeiten, Fragwürdigkeiten, Zweideutigkeiten zu handeln - mit einem Wort: von Fragen, auf die mehr als eine Antwort gegeben werden kann, Antworten zudem, die niemals genügend sicher und unzweifelhaft sind. „Wir werden darum nicht weniges in Fragezeichen denken müssen, ja, schlimmer noch: Einiges müssen wir auf Treu und Glauben annehmen, und gelegentlich müssen wir sogar spekulieren.“
Jungs überaus komplexes, thematisch ausgreifendes Werk liegt in einer Ausgabe mit zwanzig Bänden vor. Auf den ersten Blick wirkt es auch für Interessierte unübersichtlich und schwer zugänglich. Verena Kast und Ingrid Riedel haben es deshalb unternommen, das Wichtigste von Jung in einem Buch von dreihundert Seiten herauszugeben. Ein Wagnis, bei dem die Ergebnisse einer Umfrage unter Kollegen des C. G. Jung-Instituts Zürich berücksichtigt wurden, die herausfinden sollte, „welche Texte Jungs, die gleichzeitig gut erschließbar sind, sie für unabdingbar für das Verständnis der Jung'schen Psychologie erachteten“. Nachdem vor zwei Jahren Jungs „Rotes Buch“, ein kunstvoller, prachtvoll illustrierter Erfahrungsbericht im imaginierten Umgang mit dem Unbewussten, weit über die Fachgrenzen hinaus für Aufmerksamkeit gesorgt hatte, wird diesem großartigen Buch nun eine Auswahl von Texten des „klinischen“ Jung zur Seite gestellt. Damit Jung, dieser kultivierte Anwalt der menschlichen Selbstheilungskräfte, heute, in Zeiten fortschreitender Medikalisierung des Seelenlebens von einer breiten Öffentlichkeit neu entdeckt werden kann: ein Tiefenpsychologe, der die Biologie zu gewichten wusste, während er gleichzeitig mit aller Kraft an der Vorstellung seelischer Urbilder festhielt.