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Bruno Latours letztes Buch : Ökologie an die Macht

Wohin der Weg einer Klimabewegung gehen könnte, der es gelingt, den politischen Horizont zu definieren: Bruno Latour (1947–2022) Bild: Andreas Pein

Vorstellungen von einer ökologischen Klasse: Bruno Latour und Nikolaj Schultz überlegen, wie die Klimabewegung die Politik um sich herum organisieren könnte.

          3 Min.

          „Wir sind nie modern gewesen“, so lautet der Titel eines Buchs, das der kürzlich verstorbene Bruno Latour vor fast dreißig Jahren veröffentlichte. Er formuliert eine Einsicht, die im Werk dieses breit rezipierten Wissenschaftsforschers und Soziologen zentralen Stellenwert hat – dass wir zu den Modernen durch ein Missverständnis wurden, weil wir meinten, es ließe sich eine scharfe Grenze ziehen zwischen Bereichen, in denen unsere menschlichen Angelegenheiten im Spiel sind, und einem davon abtrennbaren Gegenüber, in dem die Dinge in den Blick kommen, wie sie nun einmal sind, unberührt von unseren Interessen. Eine Grenze, die das gesellschaftlich-kulturelle Terrain trennt von jenem der natürlichen Tatsachen, die von den Wissenschaften aufgezeichnet werden.

          Helmut Mayer
          Redakteur im Feuilleton, zuständig für „Neue Sachbücher“.

          Doch diese scharfe Grenze, das wurde Latour nie müde, mit immer neuen Akzentsetzungen festzuhalten, lässt sich nicht ziehen. Dazu genügt ein genauerer Blick darauf, wie die Wissenschaften fast durchweg prozedieren. Diese Diagnose hatte Anfang der Neunzigerjahre noch einen anderen Klang als heute. Aus dem einfachen Grund, weil Aspekte des Naturzusammenhangs, in den wir als Akteure einbezogen sind, sich immer deutlicher zeigten, und zwar nicht in freundlichem Licht. Die Tatsache des Klimawandels drang ins allgemeine Bewusstsein und mit ihm die Aussicht auf eine Katastrophe, deren immer besser belegter wissenschaftlicher Nachweis nichts daran ändert, dass sie mangels ausreichender Gegenmaßnahmen immer noch näher rückt.

          Viele neue und harte Konflikte

          Latour hatte auf diese ausbleibende Mobilisierung zuletzt noch in mehreren Schriften reagiert. Zentral war für ihn, dass wir immer noch in der einen oder anderen Weise an der „modernen“ Grenzziehung hängen und gerne die Augen verschließen gegenüber einer eigentlich unübersehbaren Revolution des Naturverhältnisses, einer neuen Kosmologie, die es einzuüben gilt. An dieses Motiv schließt auch der gerade bei Suhrkamp erschienene schmale Band mit dem Titel „Zur Entstehung einer ökologischen Klasse“ an.

          Bruno Latour / Nikolaj Schultz: „Zur Entstehung einer ökologischen Klasse“. Ein Memorandum.
          Bruno Latour / Nikolaj Schultz: „Zur Entstehung einer ökologischen Klasse“. Ein Memorandum. : Bild: Suhrkamp Verlag

          In diesem nun letzten, gemeinsam mit dem jungen Soziologen Nikolaj Schultz verfassten Bändchen geht es allerdings weniger um die naturphilosophische Grundlegung des neuen Klimaregimes als vielmehr direkter um die politischen Chancen der ökologischen Bewegungen. Die Klimabewegungen würden sich, insofern „modern“, immer noch zu sehr auf die bewegende und einigende Kraft der vorgezeigten wissenschaftlichen Befunde verlassen. Aber weder führe die pädagogische Variante ihres Handelns zu politischer Handlungsmacht, noch gelte, dass die so beschriebene Natur eint. Im Gegenteil, es warteten viele neue und harte Konflikte, wenn sich die politische Ökologie ernsthaft aufmacht, politische Mehrheiten zu gewinnen.

          Am Ende ereignen sich die Dinge ohnehin auf andere Weise

          Was auf dem Weg dorthin an Revolutionen der (politischen) Denkungsart liegt, möchten die Autoren skizzieren. Der Griff zum Begriff der „Klasse“ ist dabei zwar kein glücklicher, aber er zeigt gut Latours Neigung, noch die widerspenstigsten Traditionen aufzunehmen, sofern er darin brauchbare Energien vermutet. Selbst wenn dann sofort zu zeigen ist, dass die neue „Klasse“ mit den alten ziemlich wenig zu tun hat, sondern bloß einen – großzügig historisch angedeuteten – Durchsetzungswillen beerben soll. So wie sie auch „materialistisch“ zu operieren habe, doch gerade gegen die alte, an Produktionsbedingungen und garantierte Fortschrittsaussichten ausgerichtete Konstellation. Denn nun geht es ja nicht mehr um „Natur“ als ausgelagerte Ressource, sondern um die Erhaltung und Generierung der terrestrischen Bewohnbarkeitsbedingungen. Die ökologische Macht muss eine gegen die Produktion als zentralen Antrieb sein.

          Ratschläge für den nächsten Klimagipfel stecken darin nicht. Es geht, wie immer bei Latour, grundsätzlicher zu, trotz und gerade auch wegen der politischen Stoßrichtung. Und was immer man von den mitunter rührenden Versuchen der Autoren halten mag, die Möglichkeit zukünftiger Mehrheiten und kultureller Hegemonie ihrer eher locker ins Spiel gebrachten „ökologischen Klasse“ zu umreißen: Es ist eine Erinnerung daran, dass die Umbrüche, die sich abzeichnen, kaum mit der Drehung an ein paar Stellschrauben bewältigt sein werden. Wie immer sie auch konkret ablaufen, denn als Propheten geben sich Latour und sein Ko-Autor mit Bedacht nicht: „Selbstverständlich wird sich alles auf ganz andere Weise ereignen.“

          Bruno Latour und Nikolaj Schultz: „Zur Entstehung einer ökologischen Klasse“. Ein Memorandum. Aus dem Französischen von Bernd Schwibs. Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 93 S., br., 14,– €.

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