Hans Wollschlägers Briefe : Hauptsächliche Nebenbemühungen
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Hans Wollschläger Bild: Isolde Ohlbaum/Laif
Ins eigene Vergehen geschickt: Die Briefe des Dichters und Übersetzers Hans Wollschläger zeigen den Umriss einer unausgeführten Werkwelt.
Was „ein Vergehen“ sei, wissen Wörterbuch, Straßenmeinung und Suchmaschine: der gewählte, unter Umständen auch etwas gesuchte Ausdruck für die Übertretung eines Gesetzes, eines Gebotes oder einer Vorschrift. Wenn der Dichter und Übersetzer Hans Wollschläger also etwas in einem Brief vom 25. Dezember 1989 an den „Freund und Lehrer“ Michael Schneider „dieses Vergehen“ nennt und dabei ein Schuldgefühl andeutet, das in ihm rumort, weil er den Haushalt seiner eben verstorbenen Mutter auflösen muss, mag man sich denken: So schreiben Sprachverliebte eben, schnell bei der Hand mit einem Pathos, das eine Allerwelts-Traurigkeit zur Sünde aufbauscht.
Aber Wollschläger setzt einen Doppelsinn, wo er als Sohn, der das Erbe veräußert, statt es zu bewahren, diesem untreu wird und dazu seufzt, man müsse sich wohl in „auch dieses Vergehen schicken wie in das eigene dermaleinst“. Vergehen heißt hier: verschwinden, auch aus dem Gedächtnis. Gemeint ist mithin die größte Bedrohung aller denkbaren Werte der Schrift, die nicht nur neue oder seltene Wörter für teils bekannte, teils überraschende Empfindungen und Ideen wählt, sondern auch aus geläufigen ungeläufige macht, damit man aufmerkt und nicht vergisst, was man da liest.
Briefe eines Schriftstellers werden vornehmlich dann gedruckt, wenn man die Existenz eines Publikums vermutet, das sich von diesen privaten Schriften Schlüssel zu den bereits öffentlichen des Verfassers verspricht. Hans Wollschläger hat nur einen einzigen Roman geschrieben, „Herzgewächse oder der Fall Adams“; das Manuskript irrte lange durch die Lektorate und erschien schließlich 1988. Noch 1994 nennt er den Text brieflich „mein zentrales Buch“, das „die anderen Bücher (eingeschlossen die künftigen) nur trabantenhaft umkreisen“. Es erzählt die Geschichte des von Hitlers Herrschaft aus Deutschland verjagten Denkers Michael Adams, der 1945 aus dem Exil nach Bamberg zurückkehrt und dort zum Doktor Faustus einer Teufelspaktgeschichte wird, die ihn in einen publizistischen Betrieb ziehen will, dem Wollschläger zeitlebens fremd und feindlich gegenüberstand.
Kritik und Literaturgeschichte messen „Herzgewächse“ meist am Werk von Wollschlägers Lehrer und Idol Arno Schmidt. Wer nur den Einfluss sieht, der sich in Wollschlägers Zentralfiktion niederschlägt, übersieht leicht, dass ein Epigone, der einen Gestus, eine Sprechweise weiterträgt, vielleicht etwas ganz anderes will als der Neuerer, dem er folgt, indem er dessen Sprachgut dem Eigensten anverwandelt (denn das hat Wollschläger getan: er klingt wirklich ganz anders, nur eben ähnlich entschieden ungeläufig), nämlich den Gestus der markanten Wendungen und Prägungen, die ihn selbst bewegt haben, als besonderen Nachlass eben nicht auflösen, sondern bewahren, wo nötig aber neu bündeln oder anderes auffächern.
Wollschläger war, wenn er nicht schrieb, sondern las, oft in Sorge, die ihn umgebende Literatur-, Geschäfts- und Alltagssprache werde immer fahriger, bleicher, blöder und „spurenloser“ (Wollschläger an Marcel Reich-Ranicki 1993). Das Internet wirft mit Belegen dafür, dass diese Furcht begründet war, freigiebig um sich, man soll die Wörter teilen, nicht dran feilen, ihre Zweckbestimmung ist also eine sehr andere als die in einem Selbstexplikationsschreiben erläuterte Absicht Wollschlägers, „aus Wörtern eine Seelensphäre zu bauen, in der sich Liebe zum Gegenstand entfalten kann, Mitfühlen, Erkenntnis, und jene nicht mehr schreibbaren Wörter zu resonieren beginnen, in denen der Gegenstand selbst unendlich fortspricht“. Dieser Absicht wollten alle seine Aktivitäten entsprechen, als Übersetzer von Joyce und Chandler, als Editor der missverstandenen, fehlgelesenen Karl May und Friedrich Rückert, als Regisseur der unaufführbaren „Letzten Tage der Menschheit“, als Dirigent, Organist und Dilettant, der in seiner Jugend Mahlers Fragment gebliebene zehnte Symphonie, auch das eine ganz eigene Sprache, eigene Liebe, ein eigener Gegenstand, zu Ende zu komponieren.
Schon sein 2018 publizierter Briefwechsel mit Arno Schmidt lässt diesen Umriss erkennen, obwohl es darin eher um die eng umgrenzten Gegenstände gemeinsamen Interesses geht als um einen der beiden im Schattenriss, also um May, um Edgar Allan Poe, um die Schwierigkeiten mit den Verlagen. Ein zweiter Briefband, mit Texten ausschließlich von Wollschläger aus den Jahren 1988 bis 2007 (die Endmarke setzt also Wollschlägers Todesjahr), ist jetzt bei Wallstein erschienen und zeigt außer der geschilderten aktiven, für ein Literaturideal tätigen Seite des Briefschreibers auch seine Mühen damit, sich die Scheußlichkeiten des literarischen Lebens vom Leib zu halten, als Abwehr, wie er schreibt, „eines Kleinstaats, der sich mit den Großmächten nicht anlegen darf“.
Briefe als Paratext, als Beiwerk zu einem Schaffen, das abgesehen vom Zentraltext nie so recht Gestalt annahm, während besagtes Beiwerk von Wollschläger so erkennbar sorgsam durchgestaltet wurde wie sonst im fraglichen Zeitraum wohl nur das Beiwerk eines von ihm in jeder Hinsicht grundverschiedenen Kollegen, Heiner Müller, dessen zwölfbändige Werkausgabe allein drei Bände „Gespräche“ erhält. Das gibt es eben, den Typus der oder des Schreibenden mit Zwang zum Reden über das, was nie fertig wird, die Hauptsache, auf dass Wälle und Mauern aus zusätzlichem Material sie schützen und stützen, diese Hauptsache, vor dem und gegen das Vergehen.