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: Brehms Tierleben

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Alfred Brehm hat uns die Tiere dieser Welt nach Hause gebracht und uns ans Herz gelegt. "Brehms Tierleben" umfaßt viele Bände und war ungemein erfolgreich. Roger Willemsen hat einige Tiere ausgewählt. Was waren die Tiere vor Brehm? Die Antwort ist kurz: Maschinen. Von Gott wie von einer großen Schraube ...

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          Alfred Brehm hat uns die Tiere dieser Welt nach Hause gebracht und uns ans Herz gelegt. "Brehms Tierleben" umfaßt viele Bände und war ungemein erfolgreich. Roger Willemsen hat einige Tiere ausgewählt. Was waren die Tiere vor Brehm? Die Antwort ist kurz: Maschinen. Von Gott wie von einer großen Schraube aufgezogen, surrten sie die Bahnen ihres Daseins hinunter, fraßen, schliefen, vermehrten sich, nur von wenigen Instinkten gezogen, bis die innere Feder die Spannung verlor und der Tod eintrat. Im göttlichen Maschinenpark, als den man die Natur sah, wurde ein Pfau wie eine übernatürliche Spieluhr bewundert, der Stromschläge austeilende Zitteraal wie ein erhabener elektrischer Apparat. Verstand aber besaß keines der feinsinnigen Geräte, auch kein Gefühl und keine Seele; der Himmel blieb ihnen deshalb versperrt.

          Dann kam Alfred Edmund Brehm. Mit der Meerkatze Hassan und der Paviandame Atile kehrte er im Jahr 1852 als Chalihl-Effendi von einer fünfjährigen Nordostafrikareise zurück und hielt auf einer Naturforscherversammlung seinen ersten Vortrag: das Familienleben der Nilkrokodile. Zu Hause im thüringischen Renthendorf klaute Hassan Eier aus dem Hühnerstall, Atile saß auf dem Fenstersims, und Brehm schrieb Geschichten, wie es sie vorher nicht gab. Von wütenden, lügenden oder liebenden Tieren, ihren Sorgen und Ängsten, den Schattenseiten und Großtaten. Im Jahr 1864 erschien der erste Band des "Illustrirten Thierleben"; der Erfolg war so groß, daß in zweiter Auflage das Werk so hieß, wie es der Volksmund bereits nannte: "Brehms Tierleben".

          Dieses zehnbändige Riesenwerk, für das im neunzehnten Jahrhundert fast ein Dutzend Tiermaler in die zoologischen Gärten Europas ausschwärmten, liegt nun in einer Neuauflage vor: ein Band, 91 Geschichten von 91 Tieren und so lebensnahen, ideenreichen und übersprudelnden Illustrationen von Klaus Ensikat, daß man nie wieder ein Tierfoto sehen möchte.

          Der Zeitpunkt für eine Wiederauflage könnte kaum besser gewählt sein: Seit ein paar Jahren zeichnet sich eine Wende im Tierbild ab. Mit Büchern wie Frans de Waals "Der Affe in uns" scheint auch die Wissenschaft der Vorstellung überdrüssig geworden zu sein, unsere Mitgeschöpfe als Überlebensapparate mit wenigen Grundfunktionen zu beschreiben; das Erzählen kehrt in die Verhaltensbiologie zurück und damit der Blick für das Individuelle und Besondere. Grund genug also, den Klassiker wiederzuentdecken, dessen Geschichten die Tiere schon einmal aus dem Maschinenkäfig befreiten.

          Brehm, den großen, fesselnden, liebevollen Erzähler nur wegen seines Unterhaltungswerts zu loben, hieße ihn unterschätzen. Mit den Tieren meinte er es - anders als es seine Popularität und der ohrensesselhaft behagliche Beiname "Tiervater Brehm" vielleicht vermuten lassen - ernst. Bemerkt hat dies als einer der ersten der Engländer Charles Darwin. "Sehr geehrter Herr", schrieb Brehms Verleger Hermann Julius Meyer 1867 an Darwin in einem Brief, den er zusammen mit dem neuesten Band schickte, "dies ist die erste Beschreibung des Tierlebens, das den Prinzipien entspringt, deren Entdeckung wir Ihrem Genie verdanken." Und Darwin beeindruckten die Schriften des deutschen Schriftstellers, Reisenden und inzwischen Hamburger Zoodirektors so sehr, daß er sich um eine englische Übersetzung bemühte. Wenige Jahre zuvor, 1859, hatte er selbst mit "Über die Entstehung der Arten" die Grenze zwischen Mensch und Tier eingerissen, und wer seitdem von den Tieren redet, spricht auch vom Menschen.

          In dem Deutschen fand er einen, der den gleichen Schluß gezogen hatte: Wenn der Mensch vom Tier abstammte, mußte er auch Verstand, Leidenschaft und Gefühl von ihnen geerbt haben. Mit einer berührenden Radikalität gab es für Brehm keine menschliche Regung, die er nicht auch einem Affen, Maulwurf oder Mistkäfer zutraute. In Darwins "Die Abstammung des Menschen" gehörte er daher zu den meistzitierten Autoren, Spezialgebiet: die Affen. Bis heute stehen die schwarzen Bände mit dem goldenen Aufdruck in der Bibliothek des Wohnhauses Down in der Grafschaft Kent, versehen mit Darwins winzigen Bleistiftnotizen; und umgekehrt wird, wer auf der Autofahrt die A 9 hinunter die Ausfahrt nach Renthendorf nimmt, in dem als Museum erhaltenen Geburtshaus von Brehm auch Darwins Werke finden.

          Was Austersein oder ein Maulwurf leben bedeuten, ist in den fast hundertfünfzig Jahren seit Brehm nicht eindeutig geworden. Im Autor des Tierlebens findet der Leser die Antworten eines gewissenhaften Erzählers, der seinen auf Reisen und in zoologischen Gärten angehäuften Beobachtungsschatz mit geradezu erschütternder Belesenheit ergänzt. Zu jedem Tier referiert er die Schriften anderer, von Dichtern und Wissenschaftlern bis hin zur Bibel, deren tierreiches Altes Testament im Zitat neben Plinius, Goethe oder Humboldt für surreale Komik sorgen kann. Seine Bibelkundigkeit verdankte Brehm im übrigen dem Vater, einem protestantischen Pastor und Ornithologen. Die von Vater und Sohn zusammengetragene wissenschaftliche Vogelsammlung befindet sich heute im American Natural History Museum in New York; daß Brehms Werke uns weiter erhalten bleiben, verdanken wir dieser so schönen Ausgabe.

          Alfred E. Brehm: "Brehms Tierleben". Die schönsten Tiergeschichten, ausgewählt von Roger Willemsen. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2006. 951 S., geb., 39,90 [Euro].

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