Biopolitik : Wer entschärft die kleinen Kalorienbomben?
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Auch in China haben die Turnlehrer Aufwind: Im Sommerlager wird gegen Übergewicht gekämpft. Bild: REUTERS
Deutsche Kinder werden immer dicker, so lautet ein Krisenruf. Aber wie kam es eigentlich dazu, dass das dicke Kind zum Objekt gesellschaftlicher Sorge wurde? Der Sportwissenschaftler Swen Körner zeichnet die Karriere dieser Kinderkörper-Krise nach und lässt von ihr nicht viel übrig.
Dreht man ein Fernrohr um und blickt von der umgekehrten Seite hinein, so sieht man nicht nichts. Vielmehr sieht man überaus tiefenscharfe Dinge - aus ungewohnter Distanz. Mit anderen wissenschaftlichen Beobachtungswerkzeugen ist Ähnliches möglich. So nimmt der Sportwissenschaftler Swen Körner die Instrumente der empirischen Körper- und Bewegungsforschung zur Hand. Und dreht sie schlichtweg um.
Deutsche Kinder werden immer dicker: So lautete und lautet seit einigen Jahren ein unüberhörbarer Krisenruf, der dazu angetan ist, Eltern, Lehrer und Gesundheitsexperten in Alarmstimmung zu versetzen. Die Zahl dicker und fettleibiger Kinder habe sich verdoppelt, jedes fünfte Kind sei zu dick, die Leistungsfähigkeit der Sechs- bis Achtzehnjährigen sei in acht Jahren um mehr als zwanzig Prozent zurückgegangen. Ein Mitglied des AOK-Bundesverbandsvorstands fragt sich öffentlich, ob wir "ein Volk von Bewegungskrüppeln" werden. Was ist mit unseren Kleinen los? Bildschirmhocker? Verwöhnt? Macdonaldisiert? Im Herbst 2007 wird die Gesundheitspolitik mit einem "Nationalen Aktionsplan Bewegung und Ernährung" aktiv. In Aufklärungsprojekte wie "Kinderleicht", "gewichtig", "Kids vital", "Minifit" und so weiter sowie in weitere Forschung fließen Millionen.
Wie entsteht gesellschaftliche Aufmerksamkeit?
Swen Körner ist Systemtheoretiker. In seinem Buch "Dicke Kinder - revisited" liest er das Krisenphänomen gleichsam von hinten her. Er beginnt nicht mit den Messdaten, sondern bei den Kommunikationen über das Problem. Runde, träge Kinder gab es immer. Welche "Erfolgsbedingungen" aber bescheren dem Reden über dicke, unfitte Kinderkörper derzeit so eine immense Aufmerksamkeit? Um die Karriere der dicken Kinder als Thema geht es also - unabhängig davon, wie es sich wirklich verhält, denn das ist bei statistischen Sachverhalten bekanntlich schwer zu sagen. Jedenfalls aber kann man sich fragen, wie den Problemen juveniles Körpergewicht und Bewegungsmangel der Weg in die Öffentlichkeit und in die Politik gelang. Systemtheoretisch gesprochen: Wie wurde "das Passieren teilsystemspezifischer Resonanzschwellen möglich", und wie entstand gesellschaftsweit die Gewissheit, es bestehe Handlungsdruck?
Mittels einer ganzen Anzahl von Bedenken - schmissig und nicht ohne Sprachwitz - bringt Körner das Krisenszenario auf Distanz. Das (leider lange) erste Kapitel des Buches überschlägt man lieber, es enthält Theoriereferate von schwankender Qualität. Dann aber kommt der Autor zur Sache. Körner nimmt die Methoden aufs Korn, mit denen die empirische Forschung die Phänomene "Übergewicht", "motorisches "Defizit" oder umgekehrt "Leistungsfähigkeit" konstruiert. Ob Kinder dick sind, definiert der sogenannte Body-Mass-Index (BMI), das Körpergewicht wird durch das Quadrat der Körpergröße dividiert. Die errechnete, begrenzt aussagekräftige Zahl wird im Bereich Bewegungsvermögen durch einfache Tests der motorischen Leistungsfähigkeit ergänzt: Rumpfbeuge, Hängen an der Sprossenwand, Hochspringen aus dem Stand, Ballwerfen, einminütig einbeinig Balancieren, Fahrradergometer.
Mängelfeststellung
Schon hier, so Körner, lasse sich fragen, ob nicht mit solchen an Sportarten orientierten Checks von Ausdauer, Kraft, Schnelligkeit, Koordination der "Bannstrahl alarmierender Zahlen" an der falschen Stelle seinen Ausgang nimmt. Sind körperliche Geschicklichkeit und Körperbeherrschung der Kinder tatsächlich vor allem von dieser sportiven Art? Vergröbernd geht die Forschung auch mit Kausalfragen um - und in den Massenmedien bleiben dann endgültig nur einfache Ursachenzuschreibungen übrig: Ursache der gemessenen Befunde sind "Bewegungsmangel" und falsche Ernährung. Wo "Mangel" wie auch das "Falsche" beginnt, ist ebenso unklar wie die Frage, wieso es zu ihnen kommt.