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Geschichte des Nerds : Dieser Typ sinnt auf Rache

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Fashion Victims der besonderen Art: Die Protagonisten aus Joe Roths Film „Revenge of the Nerds II“ (1987) Bild: picture alliance / United Archives

Spießer, Technikenthusiast und Verfallsfigur: Die Kulturwissenschaftlerin Annekathrin Kohout widmet dem Nerd eine eingehende Betrachtung.

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          Auf dem Cover des vor vierzehn Jahren erschienenen Buchs „American Nerd“ von Benjamin Nugent entdeckt der Leser eine hübsch angeordnete Auswahl von Gegenständen. Neben einem Amateurfunkgerät und einem Taschenrechner finden sich eine Hornbrille und eine Actionfigur, ein Comic und ein Inhalator. Wer diese Devotionalien sein Eigen nennt, so wird man die Gestaltung deuten dürfen, verkörpert einen Typus, dessen Persönlichkeit auf die Präsenz bestimmter Prothesen angewiesen ist.

          Kai Spanke
          Redakteur im Feuilleton.

          Überraschen sollte das nicht, denn der Nerd zeichnet sich durch sein defizitäres Wesen aus, seitdem er sich vom Spießer in amerikanischen Filmen der Fünfzigerjahre zum klugen, aber erbarmungslos verspotteten Eigenbrötler entwickelte. Dass er jedoch mehr ist als die Summe seiner Accessoires, zeigt nun die Kulturwissenschaftlerin Annekathrin Kohout in einem Buch, welches die ästhetische Seite der Figur genauso durchleuchtet wie deren soziale Bedeutung.

          Mangelnde Political Correctness

          Die Pointe der Untersuchung, so viel sei gleich verraten, läuft darauf hinaus, dass sich der Nerd kaum noch dingfest machen lässt. Einst sagte man ihm nach, er ernähre sich am liebsten von Pizza; heute gibt es Food-Nerds, die der Haute Cuisine huldigen. Im Kino war er lange Zeit der Gegenentwurf des mit einer stumpfsinnigen Mainstream-Männlichkeit ausgestatteten Athleten; heute nehmen Sport-Nerds körperliche Fitness wesentlich ernster, als es ein Football-Spieler aus der Highschool je könnte. Seine schlecht zusammengestellte funktionale Garderobe verlieh ihm früher im Klassenzimmer den Appeal eines Erwachsenen; heute sind Fashion-Nerds die zuverlässigsten Informanten in Sachen Modetrends.

          Annekathrin Kohout: „Nerds“. Eine Popkulturgeschichte.
          Annekathrin Kohout: „Nerds“. Eine Popkulturgeschichte. : Bild: C.H. Beck Verlag

          Wenn nun jeder, der ein Spezialinteresse pflegt, ein Nerd ist, wird das Bedürfnis, sich als solcher zu inszenieren, stetig abnehmen. „Die Figur überrascht kaum noch, erschöpft sich so langsam und wird sich deshalb womöglich in andere Richtungen weiterentwickeln“, schreibt Kohout. Anders formuliert: Lässt die Referenzfigur „Nerd“ eine unüberschaubare Menge an willkürlichen Repräsentationen zu, löst sie sich auf. Ein anderer Makel, der dem Nerd inzwischen anhaftet, ist seine mangelnde Political Correctness. So ist häufiger zu lesen, der Erfolg der Sitcom „The Big Bang Theory“ verdanke sich nicht zuletzt misogynen und rassistischen Witzen. Da geht es von der Annahme, blonde Frauen seien naiv, über das Klischee, indisches Essen verursache Durchfall, bis hin zur Meinung einer Hauptfigur, wer menstruiere, könne keine seriöse Wissenschaft betreiben.

          Eine Variante des amerikanischen Traums

          Kohout schließt sich den Vorbehalten gegen den Nerd nicht blind an, sondern betrachtet sie als Symptome eines gesellschaftlichen und politischen Wandels. Daher ist ihr der Reflex fremd, kulturellen Artefakten, die Klischees bedienen und bei manchen den Ruf nach Trigger-Warnungen laut werden lassen, rundheraus ihre Daseinsberechtigung abzusprechen. Stattdessen fragt sie, ob es nicht auch die Rolle einer Sitcom sein könnte, Stereotype humorvoll zu verarbeiten. Am Ende kommt sie zu dem Ergebnis, dass die Figuren aus „The Big Bang Theory“ nicht nur zur Popularisierung des Nerds beigetragen haben, sondern auch zu einer geschärften Kritik an seinem Anspruchsdenken und seiner offensichtlichen Arroganz.

          Der 1984 erschienene Film „Revenge of the Nerds“ von Jeff Kanew popularisierte ein Motiv, das Kohout zufolge auch in den Biographien von Bill Gates oder Steve Jobs auftaucht – die Rache. Wer als Außenseiter jahrelang Häme auf sich gezogen hat, wird jubeln, wenn er zum IT-Überflieger oder Computermogul aufsteigt. Sein Erfolg, sein Geld, sein Einfluss und seine Macht, all das bezeugt letztlich die Dummheit derer, die nicht an ihn glaubten.

          Die Botschaft dahinter ist eine Variante des amerikanischen Traums: Wie schlecht auch immer dein Hemd sitzt, wie tölpelhaft auch immer du durch den Alltag stolperst, eines Tages wirst du es allen zeigen. Und damit kann aus der Warnung vor einem schwierigen Außenseiter plötzlich ein Kompliment werden: Nerd Alert!

          Annekathrin Kohout: „Nerds“. Eine Popkulturgeschichte. C.H. Beck Verlag, München 2022. 272 S., Abb., br., 16,95 €.

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