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Zwei Bücher über Inseln : Meereshäuser aus Utopia

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Eine Station auf den mäandernden Wegen des Insel-Kenners Alastair Bonnett: Eiland der San-Blas-Gruppe in der Karibik östlich des Panamakanals Bild: Picture-Alliance

Vorbereitungen auf das Zeitalter des Klimachaos: Alastair Bonnett und Gavin Francis widmen sich auf ganz verschiedene Weise dem Thema Inseln.

          3 Min.

          Jahrelang stritten sich Indien und Bangladesch um einen winzigen Landfleck im Golf von Bengalen. Er war 1970 nach den Verwüstungen des schweren Zyklons Bhola aufgetaucht. Besiedeln ließ sich das New Moore Island zwar nicht, aber als sich anbahnender Kriegsschauplatz erlangte es eine kurze Berühmtheit. Bevor ein Schuss fallen konnte, begann das eigentlich nutzlose Objekt der Begierde jedoch zu verschwinden. 2010 ließ der steigende Meeresspiegel die „Zufallsinsel“, so nennt sie Alastair Bonnett in seinem Buch „Das Zeitalter der Inseln“, vollständig in den Fluten untergehen.

          Bonnett, Professor für Sozialgeographie an der Universität Newcastle, ist das Gegenteil eines Gelehrten, der Schreibtisch oder Labor niemals verlässt. Für sein Buch über „Die seltsamsten Orte der Welt“ spürte er bereits Geisterstädte und Tunnellabyrinthe auf. Auch das Kapitel Inseln umkreiste er da beharrlich, mit Blick auf die tektonischen, vulkanischen, klimatischen und anthropogenen Prozesse. Für eine Fortsetzung blieb offenbar immer noch Stoff genug, vielleicht auch, weil Bonnett diesmal seine Beobachtungen mit kleinen Reportagen anreichern konnte.

          Im Inselstaat Tonga im Südpazifik etwa reiht er sich unter die Insulaner, trifft Meeresbiologen, die den Klimawandel leugnen, wundert sich über Politiker und Aktivisten, die auf die Bedrohung ihrer Existenz mit „achselzuckender Gleichgültigkeit“ reagieren. Das drohende Desaster vermittelt sich durch in Erinnerung bleibende Details, wie etwa eine epidemische Fettleibigkeit, die von der Unmöglichkeit herrühre, Obst und Gemüse anzubauen. Heftiger werdende Stürme zerstören Farmen, Salzwasser dringt in die Böden ein, was zur Folge hat, dass sich in den Geschäften überzuckerte Dosennahrung stapelt.

          Kontrastreicher könnte die Situation in den Golfstaaten oder in China nicht sein, wo der Inselbau längst eine gängige Praxis der Wohnraumgewinnung ist. Auch auf den künstlichen Inseln von „Ocean Reef“ an der Küste von Panama-Stadt gönnt sich eine Elite einen abgeschotteten Zufluchtsort. Bonnett besucht ihn in Begleitung eines Immobilienmaklers, der keine Notiz davon nimmt, dass nur siebzig Kilometer weiter Subsistenz-Bauern ihre insulare Lebensgrundlage versinken sehen. Schritt für Schritt eröffnen sich weitere, mit leichter Hand skizzierte Denkräume, etwa die ultralibertären Pläne für die schwimmende Stadt Seasteading, eine staatenlose Mikrogesellschaft ohne staatliche Regulierung, die der PayPal-Mitbegründer Peter Thiel auf die Landkarte utopischer Inselträume gesetzt hat.

          Noch sind die Ideen, wie die anvisierten modularen Meereshäuser auf stürmischer See zurechtkommen sollen, nicht ausgereift. Trotzdem schätzt Bonnett an der wachsenden Seasteading-Bewegung ihre Energie und Bereitschaft zur autarken Ausrichtung, mit der sich das näher rückende „Zeitalter des Klimachaos“ vielleicht bewältigen ließe. Auch für sozio-kulturelle Sonderfälle hat Bonnett Sinn, wenn er etwa auf seinen mäandernden Wegen – in seiner Nomenklatur von „Sterbenden Inseln“ über „Müllinseln“ zu „Heiligen Inseln“ – beim Volk der Kuna auf den San-Blas-Inseln haltmacht. Deren Geschlechterbeziehungen weichen von Gewohnheiten auf dem Festland erheblich ab: Männer ziehen nach der Hochzeit ins Haus der Frau, und in Familien, in denen keine Töchter geboren wurden, übernehmen die jüngsten Söhne als Transgender-Männer ihre Rolle.

          Die eine oder andere Redundanz hätte sich zwar vermeiden lassen. Dennoch gelingt es Bonnett auf knappem Raum, das Dilemma, „dass wir gleichzeitig zum gefährlichen Ufer hin- und davon wegrennen“, anekdotenreich auszuarbeiten.

          Ganz anders liest sich das Buch „Inseln“ von Gavin Francis. Selbst wenn sich die beiden Briten an einem Punkt treffen, denn Francis, im Hauptberuf praktischer Arzt, bezieht sich genauso wie Bonnett auf die Erzählung „Der Mann, der Inseln liebte“ von D.H. Lawrence. Bonnett interessiert dabei die wahre Geschichte dahinter, „das Insel-Hopping des Schriftstellers Compton Mackenzie, der in den 1920er Jahren eine Reihe immer kleinerer britischer Inseln pachtete oder kaufte und jeweils nur dort lebte“. Francis interessiert dagegen der Autor D.H. Lawrence, den er als großen „Insula-philen“ ansieht und der über seinen Aufenthalt auf Sardinien geschrieben hatte: „Es ist merkwürdig, wie wenig diese Küstenlandschaft zur Welt unserer Tage gehört.“ Diese selbstgenügsame „Welt für sich“ ist es gerade, die Francis anzieht, ob er nun zu Fuß auf den Andamanen oder der griechischen Mönch-Insel Athos unterwegs ist. Er liest von den Reiseerfahrungen anderer, etwa bei Montaigne, und seine eigenen verdichten sich zu einer Meditation aus historischen Karten und Texten, von Marc Aurel bis zu Jorge Luis Borges.

          Alastair Bonnett: „Das Zeitalter der Inseln“. Von untergehenden Paradiesen und künstlichen Archipelen. Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn. C. H. Beck Verlag, München 2021. 246 S., Abb., geb., 23,– €.

          Gavin Francis: „Inseln“. Die Kartierung einer Sehnsucht. Aus dem Englischen von Sofia Blind. DuMont Verlag, Köln 2021. 256 S., Abb. ,geb., 28,– €.

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