Identitätskrise im Jugendbuch : Wenn die Sexualität dazu führt, ein anderer sein zu wollen
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Umstrittenes Thema: Demonstranten in der Londoner Downing Street protestieren am 10. April 2022 gegen die Ausnahme von trans Menschen bei einem Verbot von Konversionstherapien. Bild: picture alliance / NurPhoto
Adam Silvera ist in sozialen Netzwerken für LGBT-freundliche Romane bekannt. Sein Jugendroman „More Happy Than Not“ verhandelt die Konversionstherapie als lukrative Gedächtnismanipulation.
Erinnerungen sind nicht für die Ewigkeit gemacht, sie sind fluide und manipulierbar. Manchmal ist ihre Existenz sogar so schwer zu ertragen, dass sich das Gehirn selbst austrickst und Wege findet, zu vergessen. Was aber bedeutet es für die Identität der Vergessenden, wenn es zum Geschäftsmodell wird, jene Erfahrungen, die unbequem sind oder gar lebensunfähig machen, zu löschen? Adam Silvera spielt genau das in seinem Roman „More Happy Than Not“ durch.
Für seinen Protagonisten Aaron Soto gibt es allen Grund, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, denn der Sechzehnjährige ist schwul und lebt an einem Ort, der das nicht toleriert – im Leonardo-Wohnblock in der Bronx, dem nördlichsten Stadtbezirk New Yorks, wo alles außerhalb der Hetero-Norm gnadenlos ausgegrenzt wird. „No Homo“, versichert man sich da unter den Jugendlichen schon in unverfänglichen Situationen, um den kleinsten Verdachtsmoment im Voraus zu entschärfen. Schlägt einer der Jungs über die Stränge und versäumt dabei, diese magische Formel zu grölen, droht Prügel.
Auch sonst meint es das Leben nicht gut mit Aaron. Geld gibt es weder für teure Comic-Hefte noch ein eigenes Zimmer, sodass er mit seinem älteren Bruder Eric im Wohnzimmer leben muss. Die Mutter – auch in der deutschen Übersetzung Mom genannt – arbeitet Schichten in zwei Jobs, und trotzdem bleibt vieles auf der Strecke. Und dass sich der Vater vor Kurzem das Leben genommen hat, hängt über dem Block wie eine dunkle Wolke.
Die Feinheiten gehen manchmal verloren
Für Erinnerungen, mit denen es sich nicht leben lässt, stampft Adam Silvera das Leteo-Institut aus dem Boden. In einem chirurgischen Eingriff wird dort das Gedächtnis „in der Blaupause“ schmerzfrei angepasst. An Erklärungen liefert der Roman nicht viel mehr, der Wink gen Sci-Fi-Klassiker „Matrix“ muss genügen. Entgegen den Wünschen seiner Mutter ergreift Aaron die Gelegenheit. „Ich will nicht mehr ich sein“ ist seine Devise zum Glück. Und schon wird er zum Versuchskaninchen einer neuen Form der Konversionstherapie.
Das Thema hat Zündstoff. In Deutschland sind Konversionstherapien an Minderjährigen erst seit 2020 verboten, in den USA gibt es noch keine flächendeckende Regelung, und andere scheinbar queer-freundliche Staaten wie das Vereinigte Königreich zögerten bei entsprechenden Gesetzentwürfen. In seinem bereits 2015 im Original erschienenen Roman versucht Silvera, der selbst offen homosexuell lebt, der gesellschaftlichen Tragweite des Problems beizukommen.
„Würdest du den Eingriff auch durchführen lassen, wenn es für deine Mitmenschen kein Thema wäre, dass du schwul bist?“, stellt die „Blaupausenarchitektin“ Evelyn Aaron plump die bedeutendste Frage des Romans und wird ebenso schnell von ihm abgebügelt: „Es geht nicht darum, was ich will. Ich muss es tun.“ Statt glaubhafter Figurenzeichnung dominiert in Silveras Debüt eine rasant oberflächliche Handlungsentwicklung, die allzu forciert auf das intendierte Ende hinsteuert, ohne organisch aus den Ereignissen hervorzugehen. Aus der Überzeugung, das Leben nicht „auf null setzen zu lassen“, wird viel zu plakativ die Hoffnung in Leteo als „Ort der zweiten Chancen“. Feinheiten dazwischen kennt der Roman nicht.
Dabei böte gerade die Erzählung aus Perspektive des Protagonisten Raum für die Entfaltung innerer Zerrissenheit. Stattdessen beschreibt Silvera, statt zu zeigen, analysiert, statt zu vermitteln. So lebensnah seine Figurensprache, so verkünstelt ist das Gedankenspiel, das er um Aaron entwirft. Wenn der Protagonist am Höhepunkt seiner Verzweiflung ausformuliert, es sei „längst Schlafenszeit, aber ein quälend echter Albtraum hält mich wach – ich selbst“, ist das beinahe unerträglich verkitscht.
Der Roman erfreut sich unter jungen Lesern, insbesondere in den sozialen Medien, großer Beliebtheit, er wurde vom „TIME Magazine“ unter die bedeutendsten Jugendbücher gewählt. Als ein Werk aber, das statt literarischem Gehalt die Identifikation mit den von Homophobie und Rassismus betroffenen Figuren in den Fokus rückt, ist es mit Blick auf die Möglichkeiten der Fiktion eine verpasste Chance.
Adam Silvera: „More Happy Than Not“. Roman. Aus dem Englischen von Lisa Kögeböhn. Arctis Verlag, Zürich 2022. 398 S., geb., 18,– €. Ab 14 J.