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Pippi Langstrumpf : Liebe kleine Krummelus

Astrid Lindgren und ihre berühmteste Tochter

Astrid Lindgren und ihre berühmteste Tochter Bild: AP

Niemals will ich werden gruß: Zum hundertsten Geburtstag von Astrid Lindgren gibt es die „Ur-Pippi“ auf Deutsch - eine schöne Begegnung mit einer Heldin, die sich von der Pippi Langstrumpf, die wir kennen, stark unterscheidet.

          3 Min.

          Der Verleger Gerard Bonnier dürfte nach 1944 nicht immer gut gelaunt gewesen sein, wenn er an das Manuskript zurückdachte, das er damals abgelehnt hatte. Es wird ihm, auch wenn er es nicht böse meinte, nicht anders gegangen sein als dem Vater des bösen Ove Fredriksson oder dem versauerten Fräulein Blomkvist. Sie haben alle ihren Meister gefunden, ein kleines Mädchen mit feuerroten Zöpfen und einem Kleid, das vorne rot ist und hinten blau. Rot und blau, jawohl, und nicht etwa „wunderschön gelb“, wie es seit 1945 in die Welt leuchtet, mit gepunkteten Hosen darunter. Das ist eine der Erkenntnisse am Rand von Pippi Langstrumpfs Weg in die Welt.

          Eva-Maria Magel
          Leitende Kulturredakteurin Rhein-Main-Zeitung.

          Zum 100. Geburtstag Astrid Lindgrens am 14. November hat der Oetinger Verlag nun eine deutsche Übersetzung der „Ur-Pippi“ von 1944 veröffentlicht. Der schön ausgestattete Band ist eher ein philologisches Geschenk für großjährige Pippi-Fans als eines für Kinder. Niemand wird den ersten Band der Trilogie, mehr umfasst die „Ur-Pippi“ nicht, gegen diese eintauschen wollen. Sehr viel anders nämlich war die Pippi Langstrumpf nicht, die als Einschlafgeschichte im Kinderzimmer von Lindgrens Tochter Karin geboren wurde. Das mit einer selbstgemalten Pippi verzierte Typoskript war Karins Geschenk zum zehnten Geburtstag.

          Absolut pippig

          Die Verlagsgutachterin Verna Lindberg schrieb am 29. Juli 1944, die Heldin dieses „Nonsensbuchs“, das sie mit einigen Änderungen zur Veröffentlichung empfahl, sei „absolut pippig“. Heute dürfte jeder wissen, was sie damit gemeint hat. Damals war diese Kombination aus Anarchie, Stärke, Fröhlichkeit, kerngesundem Menschenverstand, Witz und einer winzigen Spur von Melancholie ein erstaunlicher neuer Ton in einem Kinderbuch. Unübersehbar originell - aber Bonnier entschied sich gegen eine Veröffentlichung.

          Und das, obwohl Lindgren in ihrem Begleitbrief geschrieben hatte: „Sicherheitshalber sollte ich vielleicht darauf hinweisen, dass meine eigenen unglaublich wohlerzogenen, engelsgleichen Kinder keinerlei Schaden durch Pippis Verhalten genommen haben. Sie haben sofort verstanden, dass Pippi ein Einzelfall ist, der normalen Kindern kein Vorbild sein kann.“

          Störelement im Kleinkarierten

          Für die Veröffentlichung bei Rabén und Sjögren 1945 hat Lindgren einiges geändert, nicht nur das Kleid der Pippi. Die Episoden sind mit der heutigen Pippi identisch - sieht man einmal vom legendären Sachensucher-Spiel ab, das die Ur-Pippi noch nicht spielt. Stattdessen haut sie notfalls Kindern und Erwachsenen eine runter, und die haben es, unverblümter als in der späteren Fassung, auch verdient: Die Erzählerstimme macht uns deutlich, dass Kindsein eine anstrengende Tätigkeit ist, bei der man Störungen durch Erwachsene oder andere Kinder nur ertragen kann, wenn man sich wehrt. Pippis Sorge, nicht nett oder fein genug zu sein, die immer wieder anklingt, kennt die ursprüngliche Pippi nicht. Sie nennt Thomas und Annika zu Beginn „karierte Kinder“, weil sie herzallerliebst ausstaffiert sind - und so kleinkariert ist die Welt, in der sich Pippi wie ein Störelement bewegt, radikal, zuweilen sogar aggressiv.

          Das hat Lindgren später entfernt und dafür eine gewisse Sehnsucht nach Normalität in Pippi gelegt. Vielleicht, um mit der Figur nicht zu sehr anzuecken. Vielleicht aber, weil Pippi damit auch den latenten Schmerz des Andersseins mitbekam, den viele von Lindgrens Figuren teilen - und sie selbst, als „ledige Mutter“ zumal, in ihrer Jugend kannte. Zwar gingen ein paar schöne Frechheiten der „Ur-Pippi“ so verloren. Mit den Glättungen aber, so kann man im Vergleich sehen, zogen auch mehr Psychologie ein und der unverkennbare Lindgren-Ton.

          Hübsche Ergänzung

          Was bei einer DVD die Bonus-Tracks, sind in der „Ur-Pippi“ ein Vorwort der Tochter Karin, der die Welt den Namen Pippi Langstrumpf verdankt, und der Kommentar von Ulla Lundqvist. Sie schrieb schon früh eine Dissertation über Lindgren und konnte die Autorin dazu persönlich befragen. Hauptsächlich aus diesem Grunde ist ihr Text eine hübsche Ergänzung. Ansonsten zählt er in Zitaten und Tabellen höchst umständlich noch einmal jene Unterschiede auf, die jedem ordentlichen Pippi-Kenner ohnehin auffallen - zu viel für ein Nachwort, mit allerlei eher banalen Schlüssen aber auch zu wenig für eine literaturwissenschaftliche Studie. Immerhin finden sich erhellende Anmerkungen wie jene, dass „Anne auf Green Gables“ eines der Lieblingsbücher Lindgrens war.

          An manchen Stellen kann man allerdings nur mit äußerster Skepsis einem Kommentar folgen, der etwa den „starken Adolf“, den „Namen des Monsters mit seinem deutschen Akzent“, aus dem Zirkus als Hitler-Parodie zu erkennen glaubt. Der Name Adolf ist in Schweden nicht eben ungebräuchlich - und im Gegensatz zu dem südländisch radebrechenden Zirkusdirektor spricht der „starke Adolf“ weder in der Ur- noch in der publizierten Fassung auch nur ein Wort. Interessant hingegen ist manche Bemerkung zu den reichlich vorhandenen Gedichten der „Ur-Pippi“. Etwa zu jenem Lied, das sich auf die Zirkusartistin Elvira Madigan bezieht, der die Reiterin Elvira in der Episode „Pippi geht in den Zirkus“ ihren Namen verdankt. Wie viele der Nonsenslieder, Gedichte und leider auch eine hinreißend absurde Geburtstagsrede Pippis auf sich selbst ist es gestrichen worden - gerade diese Passagen verraten jedoch viel über Lindgrens literarische und kulturelle Prägung.

          Geblieben ist aus der „Ur-Pippi“ etwa das sehr nasse Ausflugslied, in dem die Schuhe „schwipp und schwapp und schwu“ machen. Ganz hat sich Lindgren das Dichten aber nie nehmen lassen. Ein Glück. Denn so gibt es diesen herrlichen Vers am Ende des dritten Bandes, als Pippi, Thomas und Annika jene Erbsen täuschend ähnlich sehenden Pillen schlucken, durch die sie auf ewig Kinder bleiben sollen. Der Zauber hat funktioniert, so schlecht er auch gereimt ist: „Liebe kleine Krummelus / niemals will ich werden gruß.“

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