Marisha Pessls „Niemalswelt“ : Wer einmal in der Zwischenhölle steckt
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Marisha Pessl: „Niemalswelt“. Roman. Aus dem Englischen von Claudia Feldmann. Carlsen Verlag, Hamburg 2019. 382 S., geb., 18,– Euro. Ab 14 J. Bild: Carlsen Verlag
Hör auf, dich wie ein verdammtes Klischee zu benehmen: Marisha Pessls neuer Roman „Niemalswelt“ lotet die etablierten Grenzen der Jugendliteratur aus und sprengt sie dann mit einem Lächeln.
In Marisha Pessls erstem, spektakulär erfolgreichen Roman „Die alltägliche Physik des Unglücks“ wird die siebzehnjährige Musterschülerin Blue van Meer unerwartet Teil einer exklusiven Privatschulclique, deren charismatischstes Mitglied (Hannah, Blues liebste Lehrerin) auf eine so unzureichend als Selbstmord zu identifizierende Weise ums Leben kommt, dass sich das Mädchen dazu veranlasst sieht, ein Jahr später, inzwischen als Studentin, detektivische Untersuchungen anzustellen. In Pessls jüngstem, kürzlich auf Deutsch erschienenen Roman „Niemalswelt“ wird die siebzehnjährige Musterschülerin Beatrice Hartley unerwartet Teil einer exklusiven Privatschulclique, deren charismatischstes Mitglied (Jim, Beatrices erster Freund) auf eine so unzureichend als Selbstmord zu identifizierende Weise ums Leben kommt, dass sich das Mädchen dazu veranlasst sieht, ein Jahr später, inzwischen als Studentin, detektivische Untersuchungen anzustellen.
In beiden Werken reden Teenager wie Fünfunddreißigjährige, sterben Nebenfiguren handlungstreibend in Autounfällen, betätigen sich Mütter als Hobby-Lepidopterologen. Umso deutlicher wird das, was auf den ersten Blick so aussieht wie der wesentliche Unterschied: „Die alltägliche Physik“ war eines der meistdiskutierten Bücher des Jahres 2006 und verhalf der Autorin zum zweifelhaften Status als neues Wunderkind der amerikanischen Literatur; den Klappentext schrieb Jonathan Franzen. „Niemalswelt“ dagegen ist: ein Jugendbuch.
Wenn dies auch noch nie nicht klang wie eine Beleidigung, so war es schon immer eine besonders vage. Nachdem die Adoleszenz im frühen zwanzigsten Jahrhundert zum ersten Mal als eigener psychologischer Zustand zwischen Kindheit und Erwachsenenalter beschrieben worden war, als turbulenter Testlauf für Identitäten und Verhaltensweisen, begannen Schriftsteller allmählich, Bücher explizit an Jugendliche zu richten, richteten sie in Wahrheit aber eher an deren Eltern, an ihre Hoffnungen, Ängste und nostalgischen Erinnerungen. Die Wirklichkeit sehe anders aus, als die Liebes- und Pferderomane, aber auch die Gewaltfiktionen der Sechzigerjahre es ihren Lesern weiszumachen versuchten, insistierte die neunzehnjährige Susan Hinton 1967 in einem „New York Times“-Kommentar mit dem angemessen neunmalklugen Titel „Teenagers Are For Real“ – „real“, womit sie meinte: „fast unbeschreiblich widersprüchlich“, abgebrüht und dünnhäutig, desillusioniert und idealistisch, unheimlich brutal und unheimlich gelangweilt.
Nicht ohne Kleiderschränke voll Dior
Hintons Sorge über den Zustand der Jugendliteratur hat sich als ebenso zeitlos erwiesen wie die Unklarheit darüber, was damit überhaupt gemeint ist. Viele Romane, die heute als Jugendbücher vermarktet werden, haben so viele erwachsene wie jugendliche Leser – allesamt bereit, so ein beliebter Vorwurf, für eine packende Geschichte all das zu verscherbeln, was Literatur normalerweise wertvoll macht: bewusstseinserweiternde Vielstimmigkeit für moralische und stilistische Eindeutigkeit, existentielle Verunsicherung für die ultimative Befriedigung großer Gefühle.