Bilderbuch von Jörg Mühle : Lieber reich oder lieber beliebt?
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Kroko oder Krake? Am Ende kann es auch eine Kröte sein. Illustration aus Jörg Mühles Bilderbuch Bild: Klett Kinderbuch
Im Bilderbuch „Kroko oder Krake?“ stellt Jörg Mühle seine Leser vor Entscheidungen, die es in sich haben. Jede Frage wird zum Sprungbrett in die eigene Phantasie.
Es gibt Bilderbücher, die müssen einfach nur vorgelesen werden: Das Kind betrachtet die Illustrationen, der Erwachsene schaut auf den Text, und wenn er dabei nicht gerade hundemüde ist und versehentlich das eine oder andere Wort überliest, das Kind hingegen hellwach, sodass es aus vergangener Lektüre das Buch auswendig kennt und merkt, wenn eine Textabweichung unterläuft, kommt es hier kaum zu Überraschungen oder Unterhaltungen. Und dann gibt es Bilderbücher, die erwachen im Gegenteil erst dann zum Leben, wenn besprochen wird, was sie zeigen – weil sie mit nur wenig oder sogar ganz ohne Text auskommen, weil sie den Lesern viel zu entdecken und erkennen bieten oder sich sogar direkt mit ihren Fragen, Auswahlmöglichkeiten oder Denkanstößen an sie wenden.
„Kroko oder Krake? Du musst dich entscheiden!“ von Jörg Mühle ist ein solches Buch: Hier wird der Leser Seite für Seite vor die Wahl gestellt, und keine der vielen vorgeschlagenen Varianten im Buch macht es den Kindern sonderlich bequem. Stattdessen wird jede Frage zum Sprungbrett in die eigene Phantasie.
„Wie möchten Sie sterben?“, heißt es im legendären Fragebogen, den Marcel Proust in seinem Leben gleich zweimal ausgefüllt haben soll. Das wäre für Kinder vielleicht etwas unzugänglich formuliert. Jörg Mühle stellt konkreter zur Wahl, ob das Entschlafen im eigenen Bett oder der Heldentod im Kampf mehr nach dem Geschmack des kindlichen Gemüts sei. Und: „Möchtest du irgendwann einfach tot umfallen oder lieber deinen Todestag zwei Wochen vorher kennen?“ Schließlich, als kleiner Ausweg aus den finsteren Gedanken: „Oder sollen wir einfach alle ewig leben?“
Was hieße es, den unfassbaren eigenen Tod absehen zu können, sich auf ihn vorzubereiten, die Zeit bis dahin mit Bedacht zu verbringen und zugleich mit dem Countdown des eigenen Lebens klarkommen zu müssen? Solche Fragen bewegen auch Erwachsene, und die schönsten Gespräche, die sich aus diesem Buch ergeben werden, sind kleine philosophische Unterhaltungen über große Fragen. Dass sie nicht erdrückend wirken, dafür sorgen Mühles Illustrationen.
Zu den Fragen über das Sterben stellt der Frankfurter Bilderbuchkünstler einen Jungen, der sich offenbar für den Heldentod entschieden hat: Er steht mit einer Laterne in der einen und einem kargen Zweig in der anderen Hand mit dem Rücken zu den Betrachtern vor zwei Höhlengängen. Aus dem einen kommt ihm ein riesiger Skorpion entgegen, im anderen lauert eine Handvoll fieser Piranha-Fliegen, auch groß genug, um den armen Kerl, der sich entscheiden soll, gegen wen er lieber antreten würde, mit ein paar Happs zu erledigen.
Lieber das Krokodil im Bett als die Krake in der Wanne?
Dann schon lieber eine fiese, badewannengroße Nacktschnecke massieren, einen Werwolf striegeln oder einer Spinne die Beine rasieren, zwischen denen man – zumindest das Kind, das dem Untier gegenübersteht – bequem hindurchspazieren könnte: Einige der Entscheidungen, die Mühle seinen Lesern zumutet, schließen kindliche Heldenphantasien mit ausgemachtem Quatsch kurz und stoßen bestimmt auf spontane Begeisterung.
„Würdest du lieber ohne blassen Schimmer an die Tafel müssen oder im Schlafanzug zum Sportunterricht?“: Manche der Fragen werden die jungen Mitleser – auch wenn sich das Buch merklich an Schulkinder richtet, macht es doch gewiss beim gemeinsamen Lesen mit Erwachsenen am meisten Spaß – nach Tagesform beantworten, kaum eines der Themen erschöpft sich beim ersten Betrachten. Mit Erschöpfung sollte „Kroko oder Krake?“ am besten überhaupt nicht in Verbindung gebracht werden: Für eine Gutenachtlektüre sind die Fragen entschieden zu herausfordernd – im lustigen Grusel, wenn es um die Vorzüge des titelgebenden Krokodils unter dem Bett gegenüber einer Riesenkrake in der Badewanne geht, oder in nachwirkender Wucht, wenn Mühle fragt, ob man lieber im Wald verloren gehen würde oder in einer Menschenmenge. Ein Gedankenspiel, das junge Gemüter im Dunkeln tiefer beschäftigen könnte als ein Untier unter der Matratze.
Mitten im Buch fragt Jörg Mühle seine Leser, was sie lieber wären: „Superklug, aber niemand merkt es, oder total dumm, und alle halten dich für ungeheuer intelligent?“ Auf welche Seite sich die Kinder auch gerade schlagen mögen: Dümmer als zuvor werden sie das Buch kaum zuklappen.