Corona im Kinderbuch : Wo sind die Eltern?
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Allein während der Pandemie: Eigentlich wollten ihre Eltern nur kurz weg – doch sie kamen nicht mehr zurück. Bild: Julia Zimmermann
Zwei Kinder, die ganz allein auf dem Land die Rückkehr ihrer Eltern abwarten: Mit „Ellie & Oleg – außer uns ist keiner hier“ macht Katja Ludwig aus dieser Situation einen prächtigen Roman.
Es ist bemerkenswert, wie schnell und ästhetisch beeindruckend die Pandemie in der Kinderliteratur angekommen ist. Schon im vergangenen Jahr hatte Tamara Bach in ihrem Jugendroman „Das Pferd ist ein Hund“ den Lockdown in eine Art Kammerspiel verwandelt, in dessen Verlauf sich das soziale Gefüge eines Berliner Mietshauses neu sortierte. Nun ist mit dem Kinderroman von Katja Ludwig wieder ein Buch erschienen, das Ausgangssperre und Ansteckungsgefahr als unerhörte Begebenheiten literarisch aufgreift.
„Ellie & Oleg – außer uns ist keiner hier“ nimmt seinen Untertitel sehr wörtlich. Die zwölf Jahre alte Ellie und ihr vier Jahre jüngerer Stiefbruder Oleg sind tatsächlich die Einzigen, die zurückgeblieben sind in dem neuen Zuhause ihrer Patchworkfamilie irgendwo tief in der brandenburgischen Provinz.
Nur einen Tag wollten die Eltern der beiden noch mal zurück nach Berlin, um ein paar letzte Dinge zu holen, bevor das neue Leben beginnt. Aber am Abend kehren sie nicht zurück. Und telefonisch erreichen kann man sie nicht, denn Ellie kann ihr Handy nicht mehr finden – so beginnt erzählerisch eine vordigitale Zeit, in der das Abenteuer seinen Lauf nimmt. Die beiden Kinder sind nun auf sich gestellt, allein in einem Haus ohne Nachbarn, wenn man von dem „Suffkopp“ absieht, der eine Bruchbude in der Nähe bewohnt und auf alles schießt, was ihm und seinen Hühnern zu nahe kommt. Auch sonst ist weit und breit keine Hilfe in Sicht. Weder im Dorf, das jetzt von einem unüberwindbaren Zaun umgeben ist, an dem ein Schild hängt: „Achtung! Dies ist ein kommunaler Pandemie-Abschirmbereich.“ Noch in den Weiten der sogenannten Prärie, womit die ungleichen Geschwister die von Ochsen und Pferden bevölkerten Felder hinter dem Haus meinen, die sie auf der Suche nach einem Bauernhof vergeblich zu durchqueren versuchen.
Dieser Versuch bringt ihnen nichts außer, weil sie den Rückweg nicht finden, einer ersten Nacht unter freiem Himmel. Doch bevor die zweite Nacht anbricht, entdecken sie bei einem verlassenen LPG-Hof auch einen alten Trabi und mit ihm die Erleichterung darüber, wenigstens ein Blechdach über dem Kopf zu haben. Außerdem beschert der Apfelbaum hinter dem Hof den beiden die bislang ungekannte Freude über ein paar runzelige Äpfel. „Die Schale der Äpfel ist wie klebriges altes Butterbrotpapier, doch innen sind sie süß und vanillig wie Keksteig und außer meinen geliebten Instantnudeln das Beste, was ich je gegessen habe.“
Die Perspektive von Ellie, aus deren Sicht die Geschichte erzählt ist, verändert sich im Zuge der neuen Erfahrungen des Auf-sich-gestellt-Seins. Zuweilen verlangen die Umstände ihr ab, eigene Tränen der Verzweiflung beiseitezuwischen, um dem kleinen Bruder keine Angst zu machen. Aber sie verschaffen ihr eben auch eine Tatkraft und einen Einfallsreichtum, die sich so gut anfühlen, dass sich am x-ten Tag der Pandemie beim Blick auf den Esstisch das Gefühl des Verlassenseins gar nicht mehr einstellt: „Als ich in die Küche komme, sind schon alle da.“ Und damit meint sie neben Oleg noch drei andere, nämlich Eddie, den Teddie, den streunenden Hund Averell und die Katze Sissi.
Das Buch wimmelt von solchen Szenen, guten Ideen und fein ausgearbeiteten Details, die in den schwarz-weiß gehaltenen Vignetten von Heike Herold schöne Entsprechungen finden. Es lebt von guten Ein- und vielen Zufällen, die Katja Ludwig so ineinander verwebt, dass das Geschehen nie ins Klamaukige kippt, sondern stets den ernsten Grundton bewahrt, der aus der Abwesenheit der Eltern entsteht und der einen spannenden Sog entwickelt. „Ellie & Oleg“ ist nach dem erst im vergangenen Jahr erschienenen „Der Schwesternzauber“ ihr zweites Buch mit diesem Grundmotiv. Es begreift das plötzliche Alleinsein als Zumutung voller Möglichkeiten, die zu erkennen und zu ergreifen für die Kinder im Laufe der Tage immer leichter wird. Und diese Leichtigkeit macht Mut – auch denen, die von ihr lesen.
Katja Ludwig: „Ellie & Oleg – außer uns ist keiner hier“. Mit Vignetten von Heike Herold. Klett Kinderbuch, Leipzig 2022. 236 S., geb., 16,– Euro. Ab 9 J.