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Das Bilderbuch „Wo ist mein Hut“ : Die Litanei vom Niemalswiedersehen

Bild: Nordsüd Verlag

Strafe muss sein. Muss sie? In Jon Klassens brillantem Bilderbuch „Wo ist mein Hut“ wird ein Opfer zum Täter - mit schlimmen Folgen für einen Kleinkriminellen.

          2 Min.

          Ein Bär vermisst seinen Hut. Er macht sich auf die Suche und befragt alle, die er trifft: den Fuchs, den Frosch, das Kaninchen, die Schildkröte, die Schlange und eine Art Gürteltier. Die Antworten changieren zwischen „Ich habe mal einen Hut gesehen, der war blau und rund“ und „Was ist ein Hut?“, sie sind also wenig hilfreich oder von Unkenntnis diktiert. Wie verzweifelt der Bär ist, zeigt dann eine Doppelseite im Zentrum von Jon Klassens Bilderbuch „Wo ist mein Hut“. Er liegt, den Bauch zum Himmel gereckt, im dürren Gras und klagt: „Niemand hat meinen Hut gesehen. Und wenn ich ihn nie wiedersehe? Und wenn ihn nie jemand findet? Mein armer Hut. Er fehlt mir so.“

          Tilman Spreckelsen
          Redakteur im Feuilleton.

          Schließlich fällt ihm ein, wo er den Hut gesehen hat: auf dem Kopf des Kaninchens. Er stürmt zurück, stellt den Dieb zur Rede, auf dem nächsten Bild ist dann nur noch der glückliche Bär zu sehen, mit dem wiedererlangten Hut auf dem Kopf. Und als ein Eichhörnchen vorbeikommt und nach dem Kaninchen fragt, antwortet der Bär: „Ich habe es nicht gesehen. Ich habe überhaupt keine Kaninchen gesehen. Ich fresse doch keine Kaninchen. Stell mir bloß keine Fragen mehr.“

          Gefressen oder plattgemacht?

          Was fängt man mit einem solchen Buch an? Der Verlag der deutschsprachigen Ausgabe empfiehlt es für Vierjährige, und das scheint der klaren Sprache und der überschaubaren Abbildungen wegen auch angemessen. Die Linien sind exakt ausgeführt, der Hintergrund aufs Nötigste reduziert, die Figuren - von ein paar Manierismen abgesehen - aufs Wiedererkennen angelegt, und all dies verspricht eine Handlung ohne große Rätsel.

          Dass man dabei aufs schönste getäuscht wird, macht die Qualität dieses Buchs aus, und weil Jon Klassen natürlich weiß, dass, wo Bild und Text auf einer Wellenlänge sind, die große Langeweile nicht fern ist, zündet er mit seinen unschuldigen Dialogen vor dem Hintergrund divergierender Bilder einen Sprengsatz nach dem anderen. Entscheidend ist dabei die erste Befragung des Kaninchens durch den Bären, in der die Antwort des mutmaßlichen Diebes bis in die Syntax hinein das Muster vorgibt, mit dem der Bär später dem Eichhörnchen gegenüber abstreitet, das Kaninchen auch nur gesehen zu haben.

          Falls also das Kaninchen den Hut tatsächlich gestohlen haben sollte (und nicht nur irgendwo gefunden), dann, so darf man aus Gründen der Analogiebildung schließen, dann hat der Bär das Kaninchen auch gefressen (und es nicht nur unter seinem mächtigen Hinterteil begraben). Die Bilder lassen beide Deutungen zu, und ob auf den Text, also die abstreitende Antwort des Bären, Verlass ist, muss jeder selbst entscheiden.

          Nur nicht vom Bären einlullen lassen!

          Und nun? Der Bär hat seinen Hut wieder und seinen gerechten Zorn am Kaninchen ausgelassen, und man möchte keine Wette darauf abschließen, dass man das Opfer je wiedersehen wird. Jeder Vierjährige wird das begreifen und wahrscheinlich finden, dass dem Dieb schon recht geschieht. Bis das Eichhörnchen auf den Plan tritt. Denn natürlich bringt die Analogie zwischen Bär und Eichhörnchen auch eine zwischen Hut und Kaninchen hervor - so lieb, wie dem Bären seine Kopfbedeckung ist, so verzweifelt, wie ihn der Verlust stimmt, so sehr vermisst das Eichhörnchen auch seinen Freund. Vielleicht sogar wird es sich, wie wenige Seiten zuvor der Bär, auf den Rücken legen und dieselbe Litanei anstimmen, vom Niemalswiedersehen seufzen und davon, dass ihm das Kaninchen so fehlt. Nur dass die Chancen auf ein gutes Ende in dieser Sache ganz anders liegen als beim Hutverlust.

          Woran das liegt, weiß der avisierte vierjährige Rezipient des Buches natürlich auch: Der Bär ist stark und kann sich seinen Hut zurückholen, das Eichhörnchen ist schwach, jedenfalls schwächer als der Bär, vom Kaninchen ganz abgesehen.

          Wer stark ist, weiß sich sein Recht zu verschaffen. Wer schwach ist, bleibt mit seinem folgenlosen Lamento allein. Indem Jon Klassen mit seinem schlichten Buch ein derart weitreichendes Verweissystem entwirft, stellt er sich auf den Horizont seiner Zielgruppe ein und vergrößert ihn dabei erheblich. Eltern werden ihn dafür lieben. Wenn sie sich nicht vom Bären einlullen lassen.

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