Chantal-Fleur Sandjons Roman : Wir müssen uns selbst wählen
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Schreibt aus eigener Erfahrung: Chantal-Fleur Sandjon Bild: Shaheen Wacker
In ihrem Jugendroman „Die Sonne, so strahlend und schwarz“ erzählt Chantal-Fleur Sandjon von häuslicher Gewalt, der Liebe zweier junger Frauen, von Rassismus und Selbstbehauptung.
Vielleicht wäre es doch anders gekommen, wenn Nova nicht das Bild im Bett ihres schlafenden kleinen Bruders gefunden hätte, von ihm gemalt: einen menschlichen Rumpf mit Tentakeln anstelle von Armen und Beinen, mit braunen Hautfetzen, die aus dem bluttriefenden Maul des Monsters heraushängen, dessen schwarze, runde Brille klarmacht, wer hier porträtiert worden ist. Marcus, der Vater ihres Bruders Cosmos. Novas Stiefvater. Der Peiniger ihrer Mutter. Eindeutig nicht nur ihrer.
Kaum mehr als ein paar Wochen sind vergangen, seit sich die drei am Anfang von Chantal-Fleur Sandjons Jugendroman „Die Sonne, so strahlend und schwarz“ in die neue Wohnung gerettet haben. Der Arm, den Nova damals schützend vor ihre Mutter gehalten hatte, damit der Schlag ihres Stiefvaters mit einem Stuhl nicht deren Kopf trifft, war noch im Gips. Eine Parierfraktur nennen die Ärzte diesen typischen Bruch, hat Nova gelernt und lange, zu lange für sich behalten.
Poetik der Gefühle
Dann steht Marcus doch auf einmal wieder vor Novas Schule. Kurz darauf lässt ihre Mutter am Telefon mit der Polizei auch ihre letzte Anzeige gegen Marcus wieder fallen. Schließlich sitzt er – „auf einen Neuanfang!“ – wieder am Küchentisch, darf sogar über Nacht bleiben, und der kleine Cosmos, der gerade erst seinen letzten Tag im Kindergarten hinter sich hat, fragt seine siebzehn Jahre alte Schwester, ob er bei ihr schlafen kann.
Wie die Mutter der beiden versucht, nach der Flucht zunächst ins Frauenhaus in der neuen Wohnung wieder auf die Beine zu kommen, lässt Chantal-Fleur Sandjon ihre Erzählerin mit großer Liebe, einigen Sorgen und wachsendem Befremden sehen: Als alleinerziehende, gerade arbeitslose schwarze Mutter von zwei Kindern hätte sie in Berlin schwerlich ein neues Zuhause gefunden. Zum Glück lässt eine Freundin sie in die Wohnung ihres jüngst verstorbenen Vaters ziehen, dem Klingelschild zufolge leben sie dort jetzt zu viert, als Regenbogenfamilie. Die Mutter trinkt. Ihre Kräfte reichen, um eine neue Stelle als Köchin in Cosmos’ altem Kindergarten anzutreten, aber sie reichen nicht, um Marcus dauerhaft aus ihrem Leben herauszuhalten. Wie in Nova, die ihre Mutter gerade noch gerettet hatte, der Entschluss reift, diesmal wenigstens ihren Bruder und sich selbst in Sicherheit zu bringen, schildert die Autorin, die am Ende des Buches eigene kindliche Erfahrungen mit häuslicher Gewalt erwähnt, auf ebenso bewegende wie unkonventionelle Weise.
Das ganze Buch ist in Versen gehalten, alle ein, zwei Seiten mit Überschriften in einzelne Gedichte gegliedert. Mitunter folgen die Zeilen dem Atem atemloser Erzählung, gelegentlich greifen sie ins Poetische aus, selten finden sich Reime. Und immer wieder brechen Wörter aus dem Zeilenfluss aus, werden sie im Satz auf der Buchseite zu einer Treppe, einem Abgrund, einer Spirale, stehen einmal – beim unverhofften Wiedersehen mit Marcus vor der Schule – für ein paar Seiten auf dem Kopf. Es ist eine Siebzehnjährige, die auf diese Weise ihr Erleben, ihr Leben festhält, mal in dokumentarischer Notiz, mal mit einem Bild, das gelegentlich auch, wie es nicht nur bei Jugendlichen passiert, ins Blumige oder ins Pathetische kippt: Man glaubt dieser Nova jedes ihrer Worte, jedes Gefühl und jede Bekenntnis. Und „Die Sonne, so strahlend und schwarz“ ist voller Gefühle und Bekenntnisse.