Jaques Poulins Roman : Fahrt mit Große Heuschrecke
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Was macht das Amerika aus, das wir heute kennen? Dieser Frage geht Jacques Poulin in „Volkswagen Blues“ nach. Bild: Hanser Verlag
Diese Indianerin weiß dem Weißen Mann einiges weiszumachen: Jacques Poulin schickt in „Volkswagen Blues“ ein seltsames Paar durch Nordamerika. Dabei suchen sie ihre Identität - und finden die von Amerika.
Jacques Poulin gehört zu den modernen Klassikern Nordamerikas, die der ursprüngliche Kanada-Schwerpunkt der diesjährigen Buchmesse an deutsche Gestade spült. Sinnvollerweise ist sein Hauptwerk „Volkswagen Blues“ (1984) übertragen worden, ein literarisches Roadmovie sozusagen: Der Roman erzählt die Geschichte eines Schriftstellers mit dem Pseudonym Jack Waterman, der mit einem VW Bulli von Québec nach St.Louis und von dort gen Westen, den Oregon Trail entlang, bis San Francisco fährt; auf der Reise begleitet ihn die Große Heuschrecke, eine halbindianische Zufallsbekanntschaft, ihres Zeichens Buchdiebin und begabte Kfz-Mechanikerin. Der Roman ist leicht zugänglich, kommt mitunter schlicht daher, entwickelt auf den zweiten Blick jedoch eine faszinierende Komplexität – und drive sowieso, im doppelten Wortsinn.
Aber zurück auf null: Jack, vierzig Jahre alt, macht sich in einem Mai Anfang der achtziger Jahre auf die Suche nach seinem Bruder Théo, den er seit „fünfzehn, vielleicht zwanzig“ Jahren nicht mehr gesehen hat; die Suche erklärt sich aus einer Midlife- und Schaffenskrise. Théos letztes Lebenszeichen kam aus dem Städtchen Gaspé im Südosten der Provinz Québec, eine unleserlich geschriebene Postkarte. Die Große Heuschrecke, die Jack als Anhalterin mitnimmt, hilft ihm, im örtlichen Museum eine Spur zu finden: Der Text ist ein Auszug aus einem Reisebericht Jacques Cartiers, den Théo kopiert hat. Auf den Spuren des französischen Entdeckers und Gründers von Gaspé ist Théo offenbar aufgebrochen, und zwar nach St.Louis, Missouri, wie das Gästebuch verrät. Jack und die Große Heuschrecke verfolgen die Spur, ein unwahrscheinliches Paar mit Katze, in der Hoffnung, dass ihr verrosteter Bus durchhalten wird.
Ihre Reise wird geprägt von mehr oder weniger schrägen Begegnungen; die liebenswert schrulligen Figuren werden im Verhältnis zueinander entwickelt. Für „Volkswagen Blues“ gilt, was Jack, in seinem Metier mittelmäßig erfolgreich, sich als literarisches Prinzip auf die Fahnen geschrieben hat: „Alle seine Romane waren auf dieselbe Weise entstanden: Er hatte zwei Figuren vor einem bestimmten Hintergrund zusammengeführt und ihnen – möglichst ohne einzugreifen – beim Leben zugesehen.“ Ein „Experiment“ also, in zwei Eigenbrötler auf Annäherungskurs gehen, misslingende Kopulation inklusive.
Auf der Figurenebene dient das vor allem dazu, Jacks Identitätssuche zu vertiefen. Seine Ausgangslage ist bescheiden: „In dem Alter, in dem man sonst so richtig zu leben anfängt, habe ich zu schreiben angefangen und nicht mehr damit aufgehört, und das Leben ging inzwischen weiter. Manche Leute sagen, Schreiben sei auch eine Art, zu leben; ich glaube, es ist auch eine Art, nicht zu leben.“ Schüchternheit und Isolation werden im Kontakt mit der Draufgängerin zumindest ein Stück weit aufgebrochen. Vor allem hilft sie ihm, als er Théo tatsächlich wiederfindet, mit einer unerwarteten Situation umzugehen.
Die Große Heuschrecke hat noch eine zweite Funktion, die der epischen Dimension des Romans zugeordnet ist. Die große Fahrt der VW-Vagabunden führt in den Erinnerungsraum von Amerikas Eroberung. Entdecker, Trapper, Soldaten, Indianerstämme und Siedlungsbewegungen spiegeln sich in Monumenten, Ausstellungen, Unterhaltungen und Lektüren, welche die Figuren beschäftigen, sei es der „Starved Rock“ bei Chicago, das Museum of Westward Expansion, Musik von Jimmie Rodgers und vieles mehr.