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Emily Segals New York-Roman : Zeitgeist im permanenten Krisenzustand

Die Künstlerin, Autorin und Trendprognostikerin Emily Segal Bild: Dana Boulos

Ein Smoothie aus zeitgenössischem Garnichts: Emily Segal hat eine „fiktionale Ethnographie“ der Start-up-Welt geschrieben. „Rückläufiger Merkur“ lebt stärker von seinen Beschreibungen, als dass es eine durchdachte Erzählung wäre.

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          Für Emily Segal scheint es, als könne Literatur nicht so wirklich im Zeitgeist mitmischen. Während Musik, Mode und Medien sich freudig beieinander bedienen und ständig neue Formen ausloten, blieben Bücher häufig in sich verschlossen, sagte sie letztes Jahr in einem Interview. Der Betrieb brauche viel zu lange, um Werke in die Welt zu bringen, die einen gegenwärtigen Moment abbilden – wie soll man da überhaupt ein wirklich zeitgenössisches Buch schreiben? Mehr noch: Texte, die aus sich heraus kompliziert sein wollen, würden besonders „fetischisiert“.

          Caroline O. Jebens
          Redakteurin im Ressort „Gesellschaft & Stil“.

          Ihr literarisches Debüt „Mercury Retrograde“ war bereits 2020 in ihrem eigens gegründeten Verlag erschienen, nun wurde es ins Deutsche übersetzt. „Rückläufiger Merkur“ spielt in den 2010er-Jahren in ihrer Geburtsstadt New York (sehr zeitgenössisch), und da sie sich mit ihrer Protagonistin Emily Name, Alter, Vita teilt, können Autorin und Werk zusammen gelesen werden (nichts verkomplizieren). Ursprünglich war „Rückläufiger Merkur“ auch gar nicht als Roman gedacht.

          Segal hatte 2015 einen gleichnamigen Essay veröffentlicht und dann (angeleitet von ihrem Mentor, dem Schriftsteller Douglas Coupland) sukzessive ausgebaut und schließlich fiktionalisiert. Ihr Buch sei vielmehr (auch das sagte sie in einem Interview) eine „fiktionale Ethnographie“ dieses speziellen New Yorks, in dem sie lebt. Die Fiktionalisierung diente ihr nur dazu, das Erlebte für andere lesbar zu machen. Und ja, „Rückläufiger Merkur“ lebt sehr viel mehr von seinen Beschreibungen, als dass es eine durchdachte Erzählung wäre. Im Roman zitiert sie dazu die Dichterin Alice Notley: „Experience is a hoax“, Erfahrung ist ein Witz, oder vielleicht besser übersetzt: ein Schwindel.

          Segal studierte wie ihre Protagonistin Emily Vergleichende Literaturwissenschaften und gründete mit Freunden das Kunstkollektiv K-Hole, mit dem sie das Konsumverhalten in der Mode und in Subkulturen voraussagte. Sie verfassten Trendberichte, die sie teuer an Firmen verkauften und anschließend kostenlos online stellten. Berühmt wurden sie für den Begriff „Normcore“, er beschreibt einen Kleidungsstil, der nicht individuell zu sein versucht (jeder ist heute schon Individuum), sondern so angepasst wie möglich sein will (um Gemeinschaft zu finden).

          „Meta-Schicht aus Sprache“

          Nach fünf Jahren Zeitgeistvorhersagen stellt sich für Emily im Buch eine sehr gegenwärtige Sinnkrise ein: „Ich wollte mehr von dem Saft trinken, der durch die Straßen rann, wollte mich an der Stadt vergiften. Oder vielleicht war der eigentliche Grund der größenwahnsinnigste: Ich sah es als meine Chance, auf der Membran der Wirklichkeit selbst zu schreiben.“ Diese Chance erkennt sie in einem gehypten Start-up namens eXe, bei dem nicht ganz klar ist, was es eigentlich in die Welt bringen will.

          Die charismatischen Gründer, Seth (davor „Junghypnotiseur“) und Piet („Hobbykeramiker“), die sie bei einer Innovationskonferenz in München kennenlernt, wollen das Internet „wie ein Sandwich“ mit einer „Meta-Schicht aus Sprache“ bestreichen. Emily als Chimäre aus Kunst- und Corporate-Mensch scheint ihnen perfekt für den Job; sie selbst sieht vor allem, dass sie „einen Überschuss an kulturellem und einen Mangel an echtem Kapital“ hat, und sagt zu.

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